46°54′ nördliche Breite, 11°61′ östliche Länge
Südtirol – Klappe die Zweite. Bin schon wieder hier, dieses Mal sogar wirklich in Ladinien, zumindest der Norden von Kastelruth (siehe Blog LA(NA)DINIEN vom 07.10.2020) und nicht als Passage der Italienischen Reise, sondern als Teilnehmerin einer Hospitality Summit.
Das Wetter hat sich geändert, der Wind sich gedreht und treibt Regen übers Land. Eine stille Wand schiebt sich verhangen vor den Schlern. Vorhang zu – der Nebel verschleiert die klare Sicht auf die Dinge, Berge…Sfumato.
Wenn der Vorgang sich wieder öffnet, der Nebel sich langsam verzieht entsteht eine Auf-klärung. Diese wäre auch im übertragenen Sinne von Nöten um sich und andere wieder in ein informierteres Verhältnis zur Welt zu setzen und Wissen statt verschwörungstheoretische Glaubensbekenntnisse aus Echokammern zu verbreiten.
Der Schlern mit seinen zerklüfteten, steilen Riffen aus Kalk- und Dolomitgestein besteht wie alle Berge der Dolomiten aus vielen geologischen Schichten, die sich vom Paläozoikum, über das Mesozoikum gebildet haben, einige davon im Ladin vor 236 Millionen Jahren. Doch er wollte sich heute nicht ins rechte Licht rücken lassen und blieb leicht verschwommen und unbesteigbar. Die „Durchphotographierung“ der Alpen im Anthropozän temporär gestoppt. Auch eine Art Abstandsregelung.
Die Seiser Alm (ladinisch Mont Sëuc) ist die größte Hochalm Europas (1680-2350 m), von deren Buckelwiesen Plateau sich die Zusammenhänge der einzelnen Gebirgsketten erkennen und die engen Grenzen der Dörfer und Täler überschreiten lassen. Die Schlerngruppe mit den Rosszähnen grenzen die Seiser Alm nach Südwesten hin ab. Am Mittelgipfel des Plattkofel (2958 m) findet Kastelruth seinen höchsten Punkt. Erhabenheitsgeographie.
Die Nutzung der Hochalm reicht weit zurück, bereits um 1600 ist in einer „Tiroler Landesbeschreibung“ über die Seiser Alm wie folgt geschrieben: „Es ligt auch ab den dorf Castelreudt die allerschonische und grosse alm, so man nit jr gleichen in landt findt, und man eine teische meil [deutsche Meile] wegs von dorf hinauf ist, genant die Seysser Almb, darauf man jarlichen in sumber in die 1.500 kie [Kühe] und bey 600 ogsen [Ochsen] erhalten und nichgest [nicht weniger als] in die 1.800 futer hey [Fuder Heu] herab gefiert werten… 4.000 man und weib daroben ligen und arbeyten tain in hey und das kroffigist [kräftigste] und peste hey, so man in landt findt, ist.“
Heuer (3.10.2020) fiel der Schnee runter bis auf 2.000 Meter über Meereshöhe – der Tag der „Hoamfahrt“ ins Tal ist gekommen…der Almabtrieb, bestimmt durch Ausbleiben des Graswachstums oder Kälteeinbrüche, kann beginnen. Heho – treib‘ die Kühe herab – sieh der Wind treibt Regen übers Land…
Der Almabtrieb, traditionell immer um das erste Oktoberwochenende, findet dieses Jahr ohne Zuschauer, aber mit Autos auf den sonst für diesen festlichen Anlass gesperrten Straßen, statt. Die Kühe werden von Treibern ins Tal geführt, wo sie in den Ställen der Bauernhöfe überwintern. Hoffentlich bekommen die Kühe dieses Jahr keine Depression weil sie nicht so richtig geschmückt und gefeiert werden, aber vielleicht sind sie froh auch im Tal ihre Ruhe zu haben ?
Über die Rückkehr der Tiere von den Bergweiden ins Tal gibt es bereits ab Mitte des 18. Jh. Überlieferungen. Ist der Almsommer für Mensch und Tier ohne Unfälle verlaufen, werden in vielen Gegenden die Herden geschmückt (sollte es in der Familie des Bauern einen Todesfall gegeben haben, dann wird der Kopfschmuck der Kühe mit einem schwarzen Trauerflor versehen) und der Almabtrieb mit Musik, Tanz und dem einen oder anderen Schnapserl gefeiert. Für den Kopfschmuck der Tiere wird traditionell Alpenrose, Latschenkiefer sowie Silberdistel und Seidenblumen verwendet. Eine besondere Rolle spielt dabei die Anführer Kranzkuh, mit großen Kopfschmuck, aus Zweigen, Blumen, Gräsern und Bändern in Form einer Krone geflochten. Meist zeigt der Kranz ein Kreuz, womit um den Schutz des Himmels gebeten wird, sowie Spiegel und Glocken zur Abwehr böser Geister und heuer am besten auch Covid-19 Viren.
Im Frühsommer erfolgt dann wieder der Almauftrieb.
Aber eigentlich bin ich nicht hier um mir Kühe anzuschauen, wobei ich diese Tiere liebe und in der indischen Astrologie meinem Mondzeichen Uttara-Bhadra die göttliche Kuh Kadhamenu zugeordnet ist, die wie ihre heutigen Schwestern nicht nur Käse, Milch, Fleisch, Brennmaterial, Medizin und Leder, sondern angeblich alle Gaben derer ein Mensch bedarf, liefert. Einst wollte ein gieriger König dem Weisen diese Wunderkuh stehlen; da brachte sie sogar Krieger und Waffen zum Schutz ihres Meisters hervor. So kann der unter Uttara-Badhra Geborene das Vertrauen entwickeln, dass alles da ist, was er braucht…Die richtige mentale Einstellung kann Berge versetzen! Yeah – da habe ich es ja gut getroffen, aber den Schlern lass ich erstmal in den Dolomiten stehen.
Zurück zu den Hotels wegen denen ich eigentlich hier bin und von denen es in Südtirol einige gut gestaltete gibt. Beispielsweise das ins Tannengeflüster eingebettete my arbor (lat. Baum) Hotel.
Sehe vor lauter Bäumen den Wald fast nicht mehr, aber das Hotel landschaftlich eingebettet darauf, bzw. auf stammartigen Säulen stehen. Die Grenzen zwischen Architektur und Natur, innen und aussen, verschwimmen – ein Kennzeichen vieler Gast(t)räume in dieser Region.
Zum Abschied erscheint ein fetter Regenbogen, den ich leider nur noch durch die Scheiben des Busses sehe. Der Himmel hat sich geklärt, die Starkregenfälle in Oberitalien aufgehört. Ich kehre auch hoam zurück ins Tal…
Um Meran hat es mit 200 Liter Regen pro qm sintflutartige Regenfälle gegeben, erstmals wurde am 3.10.2020 die Hochwasserschutzanlage „Mose“ in einer tatsächlichen Gefahrenlage eingesetzt und die 78 Fluttore zwischen Adria und Lagune gelassen; auf dem Marktplatz gab es keine Überschwemmungen…
Venice forever !
Auf zum Bergeversetzen!