45°43′ nördliche Breite, 12°33′ östliche Länge
„Eine seltsame Ausweitung seines Inneren wurde ihm ganz überraschend bewusst. Eine Art schweifender Unruhe. Er fragte sich nach Leben und Ziel dieser Empfindung. Es war Reiselust. Nichts weiter. Aber gesteigert bis zur Vision“. aus „Tod in Venedig“, Thomas Mann. Er fuhr nach Venedig. So did I.
Die Lagune di Venezia ist ein durch Landzungen und Inseln weitgehend abgetrenntes Haff in der nördlichen Adria. Sie entstand um 4000 v. Chr. auf Schwemmland, das nacheiszeitliche die Po-Ebene entwässernde Flüsse durch Ablagerungen hervorbrachten. Inmitten von ihr liegt die Königin der Adria: Venedig.
Während der letzten Eiszeit lag der Meeresspiegel 120 m unter dem heutigen Niveau, stieg jedoch bis um 5000 v. Chr. um 110 m an. Seither steigt er unter starken Schwankungen langsam weiter…
Durch die Lage am nördlichen Ende des langen Meeresarms der Adria werden die von Winden verursachten Wasserbewegungen verstärkt und führen zu Springtiden, die als Acqua alta bezeichnet werden und Venedig unter Wasser setzen. Immer häufiger, immer tiefer… Die „Acqua-alta“ Saison geht von September bis in den April, um den November herum ist ihr Höhepunkt. Bei der Jahrhundertflut am 12. November 2019 stieg der Pegel, ausgelöst durch von Wind aus Richtung Süden angetriebene Flutwellen zu Vollmond, 187 cm über Meeresspiegel.
8% der Lagune bestehen aus Inseln, 11% sind dauerhaft von Wasser bedeckt (inklusive der verschiedenen Kanäle), der Rest besteht aus den Valli da Pesca (Fischgründen) und aus Barene genanntem Watt und Schwemmland. Durch die geschützte Lage entwickelte sich die Republik Venedig zu einer bedeutenden Seemacht, bis in die Neuzeit war die Lagune die Stadtmauer Venedigs. Die Lagune ist seit langer Zeit bewohnt, doch erst nach dem Niedergang des weströmischen Reichs siedelten genügend Menschen auf ihrer Flucht aus dem Hinterland auf den Inseln, um die Stadt Venedig, deren historisches Zentrum (centro storico) auf mehr als 100 Inseln in der Lagune verteilt liegt, entstehen zu lassen.
Die Lagune mit ihren oft noch erhaltenen Mäandern ist eine amphibische, von den Gezeiten gestaltete Urlandschaft aus Inseln, Sandbänken, Schilf und schwimmenden Salzwiesen: das größte Feuchtgebiet des Mittelmeer, Materie zwischen Fließen und Stillstand. Und auf die mir vor meiner Abreise mehrfach gestellte Frage „Was machst du 12 Tage in Venedig ?“ kann ich nur erwidern: Verlängern, Boot mieten, einen Bogen um Venedig machen und die Inseln besuchen. Die Lagune ist wie bei Hanns-Josef Ortheil in „Der von den Löwen träumte“ zu lesen, das Schönste was Gott geschaffen hat. „Die Menschen hier sagen, Gott habe am siebten Tag keine Lust mehr gehabt, Land und Meer und Wolken zu trennen oder zu teilen. Er habe alles zusammen geschaffen, etwas Land aus Kanälen und Prielen und untergegangenen Inseln – und etwas Meerwasser, grün, blau, und grau leuchtend, in das sich die Wolken senken um daraus zu trinken.“ Oder etwas profaner könnte ich auch einfach shopping and viewing, dining and loving, blogging oder, oder… machen.
Das Wasser der Lagune enthält unendliche Spiegelungen, auch meine eigenen; narzisstisches Selbstporträt. In dieser Stadt, von der schon Goethe sagte, das man sie erst kennenlernt wenn man sich in ihr verläuft, gerät man immer wieder auf mäandernde Abwege und begegnet sich vergangenheitsvergessen immer selbst. Meine Schrittzähler App bestätigte mir so täglich 15 km und mehr. Über wieviel Brücken musstest du gehen, wieviele Spiegelungen hast du gesehen ?
Was war zuerst – das Bild von der Stadt, eh sie im Wasser stand ? Die Stadt selber: das Bild, das sich im Wasser bewegt – nur diese Stadt, nur dieses Bild, das so viele Blicke erträgt,… auf diesen Platz, sehn uns im Bild, als kämen wir wieder und wieder zur Welt, ins Wasser geworfen als Spiegelbild von uns selber und Dingen im Licht, die ein Augenblick kennt, der andere nicht: im Bild sind sie wie immer, wie für immer am Leben, im Wasser gespiegelt. Immer ein Bild aus dem Licht gezogen, von Palästen im blauen Himmel ein Bild, wir Teil dieser Scharen davor, die ( – 2020 glücklicherweise nicht) aus den Booten strömen und auf das Bild der Boote zurück, schaukelnde Wellen, auf denen Sonne sich bricht, die das Bild von den Dingen hervorbringt, von uns selber, mir, dir, von den Bildern im Wasser das Bild. Vaporetto, Jan Volker Röhnert
In den Fenstern des Correr-Museum auf dem Markusplatz ist aktuell eine Installation, des 80 Jahre alt gewordenen venezianischen Künstlers Fabrizio Plessi zu sehen: goldene, digitale Flüsse die in den Fenstern gegenüber der prachtvollen Basilika herabfließen. Die Installation im Rahmen der verschobenen »L’età dell’oro – Das goldene Zeitalter« Ausstellung ist eine Hommage des Künstlers an La Serenissima („Die Durchlauchtigste“), inspiriert durch die historische Bedeutung des Edelmetalls das eng mit der Stadt und seiner einstigen Macht verbunden ist. In verschieden Formen und Varianten begegnet uns das Gold über die Jahrzehnte hinweg als wiederkehrendes Element im eindrucksvollen künstlerischen Schaffen des Videopioniers Fabrizio Plessi bis hin zu seinen großen Schöpfungen der letzten Jahre.
Doch nicht nur Gold in all seinen Formen begegnet uns als wiederkehrendes Element im künstlerischen Schaffen des Videopioniers Fabrizio Plessi sondern auch, wie könnte es hier auch anders sein: Wasser.
Das einzige was diese Stadt des Wassers, klatschend, glitzernd, glühend, gleißend alle Farben und Muster des Elementes abbildend, übertreffen könnte wäre vielleicht noch eine in die Luft gebaute…
Pose (fast alleine) auf dem schönsten Platz der Welt. Venedig ist die Geliebte des Auges. „Und aus rein optischen Gründen bedeutet die Abreise für das Auge nicht, daß der Körper die Stadt verläßt, sondern daß die Stadt die Pupille im Stich läßt…Danach ist alles Enttäuschung. Eine Träne ist die Antizipation des Auges.“ aus: „Ufer der Verlorenen“, Joseph Brodsky. Goodbye Venice.
Abendstimmung vor der Basilika Di Santa Maria della Salute – hoffe das wieder ein goldenes Zeitalter für diese Stadt beginnt – und sie nicht in der Lagune versinkt. Die Dogen beobachteten alle Veränderungen, die zu einer Verlandung der Lagune hätten führen können, mit grosser Aufmerksamkeit. Was würden sie wohl heute tun um ihre Serenissima vor dem Untergang zu retten ? Vielleicht ein aufrüttelndes Kunstwerk wie das „Acqua Alta: En Clave de Sol“ von Tomas Saraceno ausstellen ?
Venedig hat ein Acqua Alta Warnsystem aus 16 über die sechs Sestieri verteilten Sirenen. Es gibt vier verschiedene Töne korrespondierend zu den vier Levels der Überflutung. Die Soundkomposition von Saraceno spekuliert wie Venedig in hundert Jahren bei Acqua Alta klingen könnte. Hoffentlich fällt den Nachfahren der Dogen vorher noch eine rettende Idee ein. Venezia Unica !