46° 24′ nördliche Breite, 9° 42′ östliche Länge
Vor einigen Jahren habe ich (m)einen magic place in den Alpen entdeckt: Maloja. Ein dreihundert Seelen Dorf am Malojapass zwischen Oberengadin und dem Bergell (von lat. Praegallia „Vorgallien“) im Schweizer Kanton Graubünden. Kein Wunder, dass ich intuitiv von diesem Ort so angezogen wurde, denn die Gegend ist geografisch, geologisch und metereologisch eines der interessantesten Gebiete der Alpen. Umrahmt von den Gipfeln des Alpenhauptkammes zieht sich von Nordosten her eine Seenkette durch die Hochebene bis zum Passort Maloja (1815 m). Direkt am Dorfrand liegt der südlichste, von verschneiten Lärchenwäldern umsäumte, Silsersee. Der in Maloja entspringende Inn, abgeleitet vom rätoromanischen En, gab dem 80 km langen Engadin, eines der höchstgelegenen bewohnten Täler Europas, seinen Namen. Vom Engadiner sagt man, er habe Heimweh, auch wenn er zuhause ist. Vielleicht liegt das am Inn, der ihn mit dem Meer verbindet.
Ab Ende Dezember ist der See zugefroren und bildet eine bis zu 80 cm dicke Eisschicht. Zweimal im Jahrzehnt ist sie transparent und tiefschwarz, durch eisige Temperaturen und keinen Schneefall, wie im Januar als ich das letzte Mal hier war. Das Schwarzeis knarrte, ächzte, knackte, blubberte und ich hörte den See singen: Schwarze Magie.
„Ganz See, ganz Mittag, ganz Zeit ohne Ziel“ dichtete Nietzsche 1882 am Ufer des Silsersees.
Mal spiegelt der See kristallklar die umliegenden Berggipfel, mal wühlt der stürmische Malojawind die rund vier Quadratkilometer grosse Wasserfläche auf.
Der Malojawind ist der verlängerte Talwind des Bergells. Er entsteht durch die schnellere Erwärmung der steilen Berghänge, da diese von der Sonne am Morgen stärker erwärmt werden als das Tal. Im engen, tief eingeschnittenen Bergell lagert wesentlich kältere Luft als über dem Engadin, und so bildet sich ein Windsystem mit einer ganz besonderen thermischen Zirkulation.
Es ist ein eigenwilliger Wind, der eigentlich in die falsche Richtung bläst. Vielleicht erinnert ihr euch, in der Schule hiess es: Der Talwind bläst tagsüber wegen schnellerer Lufterwärmung talaufwärts und der Bergwind wegen schnellerer Luftabkühlung in der Höhe nachts talabwärts. Beim Malojawind ist es genau umgekehrt. Der Grund liegt in der Topographie. Da das Oberengadin in Richtung Bergell keinen Talabschluss besitzt, kann der Talwind ungehindert über den Malojapass in Richtung der Engadiner Seenplatte ausströmen. Er wird auch „der verkehrte Wind“ oder „Nachtwind des Tages“ genannt. Vor lauter Gegenwind bin ich gleich ganz durch den Wind…Momentan ist es aber fast windstill, nur Schnee rieselt leise herab.
Der schneebedeckte See wird zu einer idealen Langlaufstrecke. Sogar ich habe mir dort Skier angeschnallt um in weiten Schwüngen im Höhenflug über die weiße Pulverschicht zu gleiten oder im von der Aussenwelt abgeschnittenen Weiler namens Isola ein Fondue zu genießen und auf dem Rückweg nachts mit Fackeln den See zu überqueren und leise zu singen: „Es schlafen Bächlein und See unterm Eise…Vom hohen Himmel, ein leuchtendes Schweigen erfüllt die Herzen mit Seeligkeit. Unterm sternbeglänzten Zelt wandern wir, wandern wir durch die weite, weiße Welt.“ Dank der hohen abgeschiedenen Lage funkeln und glitzern die Sterne am Nachthimmel hier besonders hell. Ein Winterzauber.
Über den weiten Himmel schieben sich aus Richtung Bergell, vom Malojawind beschleunigt und durch die umliegenden Gipfel in einen „Wind-Highway“ gedrängt, weiße auf den sanft kräuselnden Wellen des dunklen Sees changierende Wölkchen durch das inneralpine Hochtal.
Während meines Aufenthaltes zeigte die historische Silser Wetter-Messstadion jedoch meist Hochdruck an: Sonne, tiefblauer Himmel, klirrend trockene Minusgrade.
Durch die zunehmende Mobilisierung entstanden im 20. Jh auch hier gut ausgebaute Passstraßen, die den Raum nicht nur erschlossen, sondern auch kreierten und damit über die imaginären linearen Topografien hinaus in die reale, bis dato schwer zugängliche, lebensweltliche Räumlichkeit einwirkten. Selten ist die rites des passage, oder hier passender route des passage so reflektiert beschrieben worden wie in Ernst Blochs „Maloja-Chiavenna-Drift„:
„Nicht alle Wege herab stimmen von vornherein trüb. Es sei denn, daß eine platte Rückkehr mit ihnen verbunden ist. Ins allzu bekannte Tal, in ein Leben, das selber am Boden kriecht. […] So geht die berühmte Straße steil abwärts. Kehre um Kehre zieht die alte Schlucht von Maloja herunter ins Bergell. Diese Abfahrt nach Italien dürfte die jäheste, dabei die fühlbarste und lebendigste sein… Drehung um Drehung mildert sich die hochalpine Welt und was in ihr gedeiht; Arven und Lärchen lassen nach, nun erscheint die Tanne, nicht vereinzelt, sondern fast schon einen kleinen Wald bildend, zwischen dessen Stämmen die Sonne scheint und ein Stück Himmel Platz hat. Hindurch fallend voran geht die Fahrt, aber rückwärts geht die Jahreszeit […]“
Pässe sind nicht nur „Siegeszeichen des Menschengeistes, der die Natur überwindet“ sondern auch Orte die den Körper auf den Übertritt (Toilettengang, Espresso, Photo, etc.) vorbereiten. Das räumliche Übergangsritual, spannungssteigernd flankiert von Höhenangaben in jeder Kehre, besitzt auch seine zeitliche Dimension, wie ein Film wird die Fahrt und mit ihr der Fluss der Zeit angehalten – Intermission – Passhöhen sind dionysische Orte, katharsische Wendepunkte, an denen die Ordnungen der Täler einen Moment lang außer Kraft gesetzt sind.
Ich werde entgegen Bloch in südnördlicher Richtung über den Pass herab gen Heimat reisen, hoch statt trüb gestimmt und mich auf die (vor)weihnachtlichen Tage mit family & friends freuen.
Meist an herbstlichen Morgen formiert sich eine „Nebelschlange“, um auf der Höhe von Maloja aufsteigende, feuchte Luft in Wolken oder Nebel zu verwandeln. Das besondere dieses Naturschauspiels ist, dass die „Schlange“ nicht ruhig im Tal liegt, sondern nach Westen über den Malojapass hinunterkriecht, während oberhalb die Sonne bereits strahlen kann.
Die ungebändigte, hochalpine Natur bleibt wild und ich im Herzen ebenso. Das brennende Herz – Icchā-Śakti – schafft den inneren Raum, hinzuhorchen, was von mir in die Welt getragen werden möchte – Selbstgestaltung in aufsteigender Linie – „Die Welt muss romantisiert werden.“ Novalis