47°22′ nördliche Breite, 8°33′ östliche Länge
Kein Restaurant – eine Institution, eine Philosophie, eine Zeitreise. Wann immer ich in Zürich bin zieht es mich dort hin, insbesondere dieses Mal, wo in Deutschland die Restaurants bereits seit dem 2. November geschlossen sind und ich hier am letzten Abend vor dem Beginn der Sperrstunde in der Schweiz als „Exilantin“ speise. Dinner mit supplément. Auf Wunsch des Gastes wird (manchmal) eine zweite Portion des Gerichtes nachgereicht: Exuberance is beauty ! Was für eine schöne kulinarische Tradition, sehr oldschool.
1924 wurde das damalige, 1842 erbaute Biedermeier-Mehrfamilienhaus, »Hotel de la Couronne» am Bellevue von Hulda Zumsteg und ihrem Gatten übernommen und als «Restaurant Kronenhalle» eröffnet. Das Ehepaar servierte seinen Gästen eine Mischung aus schweizerischen, bayerischen und klassischen Gerichten und machte das Restaurant zu einem der ersten Häuser. Die Kunstleidenschaft ihres Sohnes, der Bilder seiner Sammlung, als die Wände in seiner Wohnung über dem Restaurant nicht mehr reichten, im Restaurant aufhängen liess, trugen zur weiteren Legendenbildung bei. Es war ein place to go – Weltberühmte Maler wie Chagall, Picasso, Miró und Giacometti sind genauso eng mit der Geschichte der Kronenhalle verwoben, wie Schriftsteller von Dürrenmatt über Max Frisch (beide fast täglich Gäste vor allem in der Bar…) bis Joyce und Modeschöpfer von Yves Saint Laurent bis zur Grand Dame der Pariser Mode: Coco Chanel.
„Es ist halb neun Uhr abends, alle Augen richten sich auf die Hintertür des Saals. Von dort wird sie kommen, pünktlich wie der Glockenschlag, verlässlich seit sechzig Jahren, Hulda Zumsteg, la Patronne. Sie trägt ihr doppeltes Perlencollier, ein Schwarzseidenes von Balenciaga, der Gehstock, den sie seit kurzem benutzt, vollendet den Auftritt. Sie ist eine Erscheinung, sie hat ein Benehmen, «tirée à quatre épingles». Die alte Dame grüsst ihre Gäste, schenkt Dürrenmatt vom Roten nach, heisst Fellini willkommen, Kaiserin Farah Diba – …“ Als Madame Zumsteg am 1984 im Alter von fast vierundneunzig Jahren stirbt, verliert die Schweiz eine Gastronomin mit Passion. 2020 verkehrt dort weniger die Hoch-und Subkultur als die distinguierte Züricher Bourgeoisie, in den Worten von Vincent Klink: „Hier bin ich in der Kantine der Bankiers, Erben und sonstiger Glückspilze. Es ist ein Ort der wertkonservativen Vernunft, der Futterplatz von Leuten und Stammgästen, die vielleicht nicht alle ausnahmslos mit Anstand ihr Geld verdienten, aber – was weit schwieriger ist –, es mit Anstand und Grandezza auszugeben gelernt haben.“ Wie auch immer – dieser Ort ist mir am Abend meines Besuches in dieser ernsten Zeit ein Moment des Trostes durch seine schwebende Feier einer behaglichen Diesseitigkeit und eines Wohlstands, der sich den Schein der Transzendenz zu geben vermag. Und am Ende ist sowieso alles Maya (sanskrit माया māyā „Illusion, Zauberei“).
Dieses Restaurant ist ein absolut trendfreier Anti Hipster Place – hier ist alles noch (fast) so wie in den 1920ern und man wartet vergebens auf Cross Over, Molecular, Vegan, Dry Aged, … Wirkliche Perfektion kann man nur erlangen, wenn man – Mantra-gleich – zehn, zwanzig, hundert ! Jahre immer dasselbe Gericht kocht…Das sagt mein Yogameister übrigens auch über die Köstlichkeiten der ayurvedischen Küche.
Hier gibt es hingegen feine Hausmannskost, dank der einen oder anderen Premierenfeier der Kunstszene aber auch „Blinis au saumon fumé et caviar ‘Osciétre“ für stolze 160 Sfr; ein Himmel aus bedeutenden Kunstwerken und aufmerksamen Service, welchen ich nach monatelangem ungewohnten täglichen Selberkochen gerade besonders wertschätze. Die Einrichtung ist gediegen, die Oberkellner tragen Schwarz, die Kellner weiße Jacken, die Kellnerinnen schwarze hochgeschlossene Blusen mit schwarzen knielangen Röcken, dazu weiße Schürzchen, alles wie früher, als es noch Hierarchie und Kleiderordnungen in der Gastronomie gab.
Personalmangel scheint es nicht zu geben, die Fortbildung der jungen Adepten passiert vor den Augen des Gastes, ebenso wie das blaue Flammen züngelnde Flambieren der köstlichen Crêpes Suzettes, formvollendet auf dem Rechaud erwärmt und mit gekonntem Schwung auf die bereitgestellten Teller gehoben.
Die Tische sind mit weißem Damast, Tafelsilber und einem Sträusslein Rosen eingedeckt.
Die Lage unweit vom Züri See ist zentral, nicht jedoch bevorzugt. Dass hinter diesen Mauern das who is who der Kunstgeschichte der Moderne an den Wänden hängt, ist nicht zu ahnen, wenn man die bescheidene Eingangstür die in einen schmalen Korridor mündet, öffnet. Es lebe das Understatement, die Kronenhalle hat einfach Stil.
Doch bevor ich diese endgültig verlasse gönne ich mir zum krönenden Abschluss des Abends noch einen Digestif mit der Tochter in der Kronenhalle Bar. Family Affairs.
Die mit dunkelgrünem Leder gepolsterten Sitzbänke auf denen wir uns für einige Drinks niederlassen erinnern an die Pracht alter Grandhotels. Mit dem dekonstruierten Picasso Porträt über mir habe ich wohl weniger Ähnlichkeiten als mit den reduzierten spannungsgeladenen Tuschlinien des portrait de femme von Matisse. Je suis une bohémienne.
Sammlungen haben immer auch mit Geschichtenerzählen zu tun, ein sinnliches Verschmelzen von Gegenständen mit Erinnerungen. Was sammle ich – ausser auch einiger Kunstwerke ? I collect moments. TOPOPHILIC EXPERIENCES.
Im nächsten Beitrag geht es wieder mehr um Natur statt um Kultur, wenn ich euch getreu dem Motto der aktuellen Kunsthaus Zürich Ausstellung „Im Herzen wild – Die Romantik in der Schweiz“ in die majestätische Bergwelt des Engadin entführe.