46°24′ nördliche Breite, 09°47′ östliche Länge
Heute am 26.12., zweiter Weihnachtsfeiertag, zweiter Tag der magischen Rauhnächte, erscheinen mir wieder Bilder meines inneren Winteralbums und ich sehe wie ich mich unlängst auf einer Kutsche, in warme dicke Felle gekuschelt, von 2 Kaltblütler PS durch tief verschneite Arven und Lärchenwälder ins romantische Fextal (rätoromanisch Val Fex) habe ziehen lassen. Ein recht einsames 8 km langes Seitental im Oberengadin, heute noch von rund 100 Menschen bewohnt. Eine stille weiße Wunderwelt. Das einzige was ich höre ist der Klang der Hufe auf dem Schnee, das leise Schnauben der Pferde, das Klirren des Fahrgeschirrs und das helle Klingeln der weihnachtlichen Glöckchen in der klaren kalten Winterluft. Der Kutscher hält die Zügel seines Zweispänners selbstbewusst in der Hand…läuft.
Seit ich denken kann habe ich eine obsession de la neige – das kommt vielleicht daher, dass die erste bewusste frühkindliche Erinnerung, die ich von mir als Individuum habe, im Schnee war. Ich stapfte dick eingemummelt meinen Eltern hinterher. Alleine. In der Kälte. Ein einzelnes Kind.
Viele Winter folgten, Winter in denen noch Schnee fiel, Schlittenfahren unterm Sternenhimmel, der Vater erklärt der kleinen Tochter die Sternbilder, Rauhnächte – Sehnsuchtszeit. Jetzt ist der Vater selbst im „Himmel“.
Während rund dreihundert Jahren wurden im hinteren Fextal Glimmerschieferplatten für den Ofenbau und zum Eindecken von Hausdächern abgebaut, die sogenannten Fexerplatten. Nach 1964 (by the way mein Geburtsjahr) sind die Anlagen verfallen. 2017 wurde das Wohnhaus der ehemaligen Steinbrucharbeiter in Stand gesetzt und ein kleines Museum zur Geschichte des Abbaus eingerichtet. Die Fexerplatten sind ein historisches und kulturelles Gut, die es nur im Val Fex zu finden gibt. Ein Besuch bei der Alp da Segl, wo im Pferdestall ein kleines Museum eingereichtet ist, Original wiederhergestellten Steinbruch «Cheva Plattas da Fex» abgerundet werden.
So malerisch das Tal heute für Touristen ist, so gefährlich war es früher als es noch eine frequentierte Schmugglerroute über die Berge nach und von Italien war. Meist waren die Schmuggler in der Nacht unterwegs, trotz der Gefahren von steilen Abhängen und brutalen Grenzwächtern hatte der illegale Handel mit dem angrenzenden Italien in den Südbündner Tälern eine lange Tradition, insbesondere auch wieder in den Weltkriegen. mit stillschweigendem Einverständnis noch bis in die 1990er.
„Das Diktat der Zeit -… ist aufgehoben. Unter frischen Wehen. Kroch eine Gleichung in die Hügel. Rein als Raum. Dreht sich die Landschaft auf den Rücken wie im Traum.“ Durs Grünbein, Vom Schnee
Claudio Abbado, einer der grössten Dirigenten des 20. Jh hat hier seit Allerheiligen 2014 seine letzte Ruhestätte gefunden. «Liebe Freunde, seit letztem Samstag liegt Claudio im magischen Fextal bei Sils Maria im Engadin, dem Ort der Schönheit und des Friedens, den er so geliebt hat.» Dieser Satz ist auf der Homepage der «Abbadiani, der Freunde Claudio Abbados» zu lesen. In einem Interview hat er von seinem Bezug zur Val Fex gesprochen. «Da gibt es ein Tal, das Fextal, wo seit 100 Jahren nichts verändert werden darf. Dort gibt es keinen Verkehr, man muss mit der Kutsche oder zu Fuss hingelangen... » Besonders hat Abbado die Ruhe dieser Landschaft geschätzt – und den Schnee, den es auch manchmal im Sommer dort gab. «Ich liebe den Klang des Schnees. Es ist nicht einmal ein wirkliches Geräusch: ein Hauch, ein Nichts an Klang…In der Musik gibt es das auch: Wenn in einer Partitur ein Pianissimo vorgeschrieben ist, das bis zum ‘niente’ geht. Dieses ‘niente’ kann man dort oben erfahren.»
Nun ruht Abbado in genau dieser von ihm so sehr geliebten Stille auf dem kleinen Friedhof der Kirche in Fex Crasta, Ende des 15. Jh. errichtet und für seine Fresken bekannt. Die Fresken fielen dem Bildersturm zum Opfer und wurden vollständig mit einer Deckschicht übertüncht. Erst im 20. Jh wurden sie wieder freigelegt und restauriert. Was verdeckt der Schnee ?
Manchmal gibt es dort auch Konzerte. Eines der letzten von Claudio Abbado war:
Zurück laufe ich, das Knirschen der eigenen Schritte im Schnee hörend, nicht Mozart, sondern ein vorweihnachtliches Volkslied leise vor mich hin singend: „Es ist für uns eine Zeit angekommen, Die bringt uns eine große Freud, über’s schneebeglänzte Feld,
wandern wir, wandern wir durch die weite weiße Welt“ wieder zurück ins Waldhaus Sils Maria. Another Story.