46°41′ nördliche Breite, 9°76′ östliche Länge
Sils ist ein malerisches Dorf aus denkmalgeschützten Häusern mit starken Mauern, hinter denen man sich geborgen fühlt. Viele Schriftsteller, Maler, Musiker und ein Philosoph fühlten sich angezogen. In den Sommermonaten der 1880er-Jahre, bis kurz vor seinem geistigen Zusammenbruch 1889 diente ihm Sils Maria als Sommerresidenz. Ein weiteres Engadin Panorama der grossen Gefühle – auf den Spuren des „Abenteurers und Weltumsegler“ der inneren Welt: Friedrich Nietzsche.
Wegen seiner schlechten gesundheitlichen Verfassung gab er 1879 seine Professur für klassische Philologie an der Universität Basel auf und bereiste als feinfühliges Nervenbündel europäische Kurorte auf der Suche nach einem günstigeren Klima zur Niederschrift seiner philosophischen Werke. Dabei kam er auch nach St. Moritz und entdeckte in der Nähe in Sils Maria ein schlichtes Schlaf- und Arbeitszimmer im ersten Stock eines alten Hauses im Engadin Stil und mietete es, zu einem heute unvorstellbaren Traumpreis von 1 Franken täglich. Das 1800 m hochgelegene Sils im Oberengadin bezeichnete er zu Recht als perla perlissima. In seinem Zimmer, das er seine Höhle nannte, korrespondierte er mit friends and family und verfasste nahezu 10 seiner bedeutendsten Werke, darunter auch sein Spätwerk „Also sprach Zarathustra„. Auf das damit verbundene Konzept der „Ewigen Wiederkunft“ wurde er bei einer Wanderung am nahegelegenen Silvaplanersee, «bei einem mächtigen pyramidal aufgethürmten Block unweit Surlei» inspiriert. Am mittlerweile Nietzsche-Stein genannten Felsen, wo er so eine Art Erweckungserlebnis hatte, haben die Silser Verse aus Zarathustra gemeißelt:„Hier saß ich, wartend, wartend, – doch auf Nichts,/Jenseits von Gut und Böse, bald des Lichts“, heißt es im Gedicht „Sils Maria“, gefolgt von den Versen: „Da, plötzlich, Freundin! wurde Eins zu Zwei – Und Zarathustra ging an mir vorbei.“
Nach erfolglosen Kuren hatte Nietzsche sich im Juli 1881 „wieder nach dem Engadin hindurchgerettet“. Es war ein kairotischer Moment für ihn, indem es auch genau wie heute eine Wiederkehr der Jupiter/Saturn Konjunktion gab. Planeten die für Weisheit und Zerstörung stehen und das Leben des Ausnahmedenkers im sogenannten langen 19. Jh ganz besonders prägten.
„Hier (…) ist mir bei weitem am wohlsten auf Erden.“ In dem trockenen, sonnenreichen Klima der Hochebene, erhofft sich der wetterfühlige Denker Linderung für seine Migräne. Ein strenger Tagesplan regelte nicht nur Arbeits-, und Essenszeiten, sondern sah auch „täglich 5 -7 Stunden Bewegung“, ausgedehnte Spaziergänge in der Umgebung vor, bei denen sich die auf den Wanderungen mitgeführten Notizbücher füllten. Ich kam hier zwar einschliesslich Schwimmen und Yoga auf eine ähnliche Anzahl bewegter Stunden, aber die Fertigkeit beim Gehen zu schreiben habe ich leider noch nicht erworben. Im Sommer 1883 reiste der Philosoph mit 104 Kilo Bücher an – ich dachte schon ich hätte viele Bücher dabei, als ich für einen einwöchigen Aufenthalt sieben Bücher einpackte…darunter auch, sehr zu empfehlen, Rüdiger Safranski: Nietzsche- Biographie seines Denkens. Das Oberengadin war ihm bald „meine rechte Heimat und Brutstätte“, Wohnstatt seiner Musen, Sils Maria der „Ort, wo ich einmal sterben will; inzwischen gibt er mir die besten Antriebe zum Noch-Leben.“ Nach „den Abenden, wo ich ganz allein, im engen niedrigen Stübchen sitze (…) “, eröffnete ihm ab 1884 sein Mittagstisch im Hotel Alpenrose doch auch geselligen Kontakt zu einem Kreis kultivierter Damen, der sich in den folgenden Sommern fortsetzte und dem „Einsiedler von Sils Maria“ „als Kur und gelegentliche Medizin“, hochwillkommen blieb.
Am 20. September 1888 verliess Nietzsche zum letzten Mal Sils Maria, jenen Ort, dem – wie er in „Ecce homo“ schrieb – „meine Dankbarkeit das Geschenk eines unsterblichen Namens machen will“.
Ein Ort der Erleuchtung, ein Pilgerort des Hohen Denkens. Man solle „keinem Gedanken Glauben schenken, der nicht im Freien geboren wurde“, lautete seine Maxime. Und so lief er durch das lang gestreckte Tal, umrundete Seen, machte sich dabei unentwegt Notizen über Gott und die Welt. Den Dreiklang der dionysischen Entgrenzung – im eins werden mit der Natur, im eins werden des Individuums mit der Masse der Menschen in der Orgie des Festes und dem eins werden mit der Innenwelt seines Unterbewusstseins.
Für das Dorf waren die sieben Nietzsche-Sommer ein Geschenk des Himmels. Die Liste der Künstler, die sich nach ihm auf Inspirationssuche in das Dorf begaben, reicht von Thomas Mann und Kurt Tucholsky über Hermann Hesse, Marc Chagall bis hin zu Stefan Zweig, Paul Celan, David Bowie – Der Mann der vom Himmel fiel. Allesamt Meister der Vertikalspannung – Selbstgestaltung in aufsteigender Linie – geerdet und gehimmelt zugleich.
„Nietzsche-Jünger sind Individualisten, sehr spezielle Leute“, formuliert es die wissenschaftliche Mitarbeiterin am Nietzsche Haus, höflich. Ich bin zwar keine Jüngerin- aber fühle mich dennoch ganz gut beschrieben.
Das Photo ist 12 Jahre nach Nietzsches Tod entstanden, aber Sils hat zu seinen Lebzeiten wohl genauso ausgesehen, bis heute ist es noch geblieben, wie es immer war. Die Fedacla rauscht, die Kirchturmuhr schlägt zur Viertelstunde (es gibt übrigens drei Kirchen/Kapellen in diesem 700 Seelen Dorf), Pferdehufe klappern auf der Via da Marias, der Schnee fällt. Aber einiges hat sich doch geändert – die Gletscher schmelzen, die Baumgrenze steigt, es gibt jetzt hier mehr Wald.
Heute an Wintersonnenwende, der kürzeste Tag und die längste Nacht dieses besonderen Jahres, sind sich die beiden größten Planeten unseres Sonnensystems – Saturn und Jupiter – wieder sehr nah gekommen, so nah wie schon seit 1623 nicht mehr. Sie erscheinen am Nachthimmel fast wie ein heller, großer Doppelstern. Es heisst das der Stern von Betlehem vielleicht auch durch so eine große J/S Konjunktion entstand.
In Gedenken an, oder besser Gedanken zu Nietzsche, denn er hasste Personenkult, genieße ich zum Ausklang des Abends „Nietzsches Traum“ – ein Cocktail aus Tequila, Grand Marnier, Cointreau und Orangensaft. Eine spirituose Verzückungsspitze – Sante ! „Das Leben ist wie ein Cocktail, mehr oder weniger glücklich gemixt.“ Friedrich Löchner (1915-2015)
Ich hoffe das unter dem speziellen Sternenhimmel, wenn der schnellere Jupiter den ferneren Saturn überholt, und die beiden „Strangers in the Night“ Megasterne für einen kurzen Moment heute Nacht fast zu einem Lichtpunkt verschmelzen ganz viel love & light auf unsere Erde hinabscheint.
inspirierender Beitrag, vielen Dank!