„…Alles wird Streifen, die Getreidefelder werden zu gelben Strähnen, die Kleefelder erscheinen wie lange grüne Zöpfe…und vermischen sich auf die verrückteste Weise mit dem Horizont.“ Victor Hugo 1837. Die Geburt des Impressionismus entstand durch den Blick aus dem Eisenbahnabteil. Distanz entsteht durch Unschärfe. Als ich mich vor einigen Tagen, in der Nord-Ostsee-Bahn sitzend, von meiner „Heimatinsel“ entfernte,
wurde das Land mit jedem Kilometer wieder fester, trockener und grüner und ich fühlte mich immer mehr „Land unter“. Ich bin eine Weltenwanderin im Zwischenraum, im Übergangsbereich von dauerhaft feuchten zu trockenen Gebieten. Eine Träumerin, in deren inneren Sfumato Bildern, im Nebel und Dunst deutscher Romantik, Himmel und Erde verschwimmen, bis nicht mehr klar ersichtlich ist, wo das eine endet und das andere beginnt. Being blurry. Ich löse Gegensätze auf, gebe Kontrolle ab und überwinde das Kategoriale der Sprache, werde durchlässig. „…Mir ist als kämen die Berge und Wälder aller Länder auf Paris angerückt. Ich rieche schon den Duft der deutschen Linden; vor meiner Tür brandet die Nordsee.“ Heinrich Heine, 1843 bei einer Eisenbahnfahrt.
Die Unschärfe ist eine Form der Ungenauigkeit, Unbestimmtheit oder Ungewissheit bei der Wiedergabe eines Objekts oder Sachverhalts. „Eine Welle lässt sich nicht auf einen Ort oder Zeitpunkt festlegen. Wenn beispielsweise eine Wasserwelle genauer vermessen werden soll, so wird die Höhe des Wasserpegels an bestimmten Orten zu unterschiedlichen Zeitpunkten bestimmt. Für eine exakte Beschreibung einer Welle werden unendlich viele Messungen benötigt, in der Praxis lassen sich nur eine endliche Zahl an Messungen vornehmen. Dies führt zu einer Unschärfe bei der Messung von Wellenphänomenen.“ Wikipedia
Die Steinlinien im Wattenmeer verfestigen wieder die Strukturen, setzen Details und Grenzen, bevor der Damm endgültig in das Festland einmündet. Jedes Mal bin ich aufs neue ganz eingenommen von diesem transitorischen Prozess, welcher anscheinend viel mit mir und meiner Sicht auf die Welt zu tun hat. Es ist eine Reise ins Unterbewusstsein. Ein Abtauchen ins Ich. Der Mensch muss muss Orte finden, an denen er sein Inneres und sein Äusseres in Einklang bringen kann. Die Insel sehen und sein.
Stadt, Land, Meer – wo will ich hin, wo komme ich her ? Wie orientiere ich mich in der Unschärfe ? Unschärfe ist (m)ein Prinzip, eine Ästhetik des Ungefähren, die aus mehr als zwei scharfen Zustände aus wahr und falsch besteht und keine eineindeutige Bijektivität herstellt. Unschärfe ist eher verwandt mit der mehrdeutigen Ambiguität, bezieht sich jedoch auf das Objekt selbst, das abgebildet werden kann, während sich Mehrdeutigkeit mit der Interpretation dessen beschäftigt. Da die Phänomene der Unschärfe und der Ambiguität verwandt sind, lassen sich Unschärfen ebenso mit einer Kontextualisierung durch verdichtete Sprache verringern, indem ich die Punkte einer Beschreibung oder auch Handlung mit den Punkten anderer Beschreibungen in Beziehung setze, was ich fast schon zwanghaft tue.
Ich werde die Geräusche des Stadt-Meeres naturalisieren und im Sinne des Malers Courbets imaginieren – „Ich hätte das in der Art meiner Seestücke gemalt, mit einem Himmel von unermeßlicher Tiefe, mit Bewegungen, Häusern, Kuppeln die aufgeregten Wogen des Meeres vortäuschend...“
Das Stadt-Meer liegt also demnach im Auge des Betrachters. Ich sehe (m)eine Meer-Stadt. Ich mache mir die Welt, wie sie mir gefällt…
Schaut hin – im Sinne dieses biblischen Leitwortes – entsteht Schärfe (als Gegenteil von Unschärfe) als Unterscheidbarkeit. Nur der Kontext bestimmt eine Wahrnehmung als „unscharf“. Mit der Präzision des Unscharfen fokussiert hinschauen erfordert den „weichen“ Seherblick, vielleicht auch ein Loslassen bisheriger Sehgewohnheiten. Unschärfe geht unter die (Netz)haut: Ich bin Seh(n)süchtig nach Mee(h)r.
Die Bilder vom Damm erinnern an Gerhard Richter – so schlierig.