73°06′ nördliche Breite, 25°24′ westlich Länge
Richtig gelesen: Antarctic Sund – falls ihr denkt jetzt ist sie völlig crazy und jettet von Pol zu Pol, ich schreibe immer noch über Grönland und dort befindet sich auch inmitten des unbewohnten King Christian X Land der Antarctic Sund. Benannt nach Nathorsts Schiff Antarctic auf dem er 1899 diesen Fjordzweig fand und zum ersten Mal kartierte.
Grønland, bedeutet wörtlich übersetzt „Grünland“. Erik der Rote hatte es bei seiner Landnahme in Südgrönland im späten 10. Jh so genannt, weil er genau wie ich dort Berge, Beach und Blumenwiesen sah und „es die Leute ermutigen würde, dorthin zu gehen, da das Land einen guten Namen hatte“.
Die reichhaltige Flora der Tundra ist beeindruckend: Blumen, Moose, Weiden, Zwergbirken etc. – (ich bin keine Botanikerin…) Die auffälligste Pflanze ist die Alpen-Bärentraube (Arctostaphylos alpina), die bei meinem Besuch im vergangenen August gerade in die leuchtend rote Herbstfärbung überging: Rotland.
Lange vor Nathorst war der Arktisforscher Clavering 1823 auch hier. Er sollte unbekannte Gebiete erkunden; das Nordpolarmeer war noch unerforscht, er stieß an der Küste auf eine Gruppe von 12 Inuit – Männer, Frauen und Kinder. Sie trugen lange Haare und Kleidung aus Tierhäuten. Geschenke wurden ausgetauscht. Sie gelten bis heute als die nördlichsten Bewohner von Ostgrönland und die erste und einzige Gruppe Inuits die Europäer in dieser unbesiedelten Region angetroffen haben…
Eine spätere Expedition von Koldewey fand auf Clavering, eine Station etwa an der Stelle wo Clavering einst den Nordostgrönländern begegnet war, nur noch halbverfallene, unbewohnte Hütten der vermutlich um 1850 ausgestorbenen letzten Generation.
Um letzte Zeugnisse einer verschwindenden Kultur ging es auch in „Palos Brautfahrt“, ein Dokumentarfilm in dem es dem bekannten Polarforscher und Initiator Knud Rasmussen, weniger um eine ergreifende Inuit Liebesgeschichte ging, als um eine verschwindende schamanische Kultur – Szenen, die zu filmen 1934 noch möglich gewesen ist, und die heute Geschichte sind.
Genau wie die archäologischen Spuren einiger Inuits und die historischen Jagdhütten die es weiter südlich immer mal wieder gab. Relikte einer heute nicht mehr besiedelten Welt wie die vereinzelte Trapperhütte aus den 1920er Jahren auf unterem Photo. Es wird dunkler, die Sonne geht nachts wieder unter. Schon jetzt vermisse ich die magische Mitternachtssonne. Den Stillstand der Zeit. Ewigkeit.
Vor der Hütte liegt der Schädel eines Moschusochsen. Die geschwungenen Hörner stoßen auf der Stirn aneinander, also war es mal ein Bulle.
Interessanter als diese alten Knochen war allerdings am Ende der Bucht eine kleine Herde lebendiger! in der Tundra grasender Moschusochsen wie aus urweltlichen Geschichten ferner Zeiten.
Eine Landschaft die noch (fast) keine Augen gesehen haben. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass die Erde über die ich entlang wandere noch keines Menschen Fuß je betrat, die Steine die ich sah noch kein Auge erblickte. Fast ehrfüchtig mache ich einige Photos in dieser größten und einsamsten Wildnis der Welt, wandere weiter durch das breite Flusstal ins Hinterland, immer leicht panisch darauf bedacht nicht zu weit zu laufen, mein Expeditionsschiff nicht mehr zu finden und hier zu enden wie der Moschusbulle.
Irgendwann auf der Reise habe ich es aufgegeben mir zu merken in welchem Fjord oder Sund ich gerade bin. Kein Wunder, denn Kangertittivaq ist das größte Fjordsystem der Welt und erstreckt sich über eine Fläche von mehr als 36.000 Quadratkilometern.
Ostgrönlands Fjorde erinnern mich an die norwegischen, nur weniger grün und noch gigantischer. Norwegen in XXL. Kein Wunder – einst waren Ostgrönland und Norwegen eine Landmasse. Die Glazialtektonik ist ein genialer Landschaftsgestalter. Die Wannenbildung der Fjorde ist entstanden durch einstige Eisauflast, deren Wucht noch erkennbar ist an den seitlich aufgestülpten, monumentalen bis über 3000 Meter in die Höhe ragenden Bergmassiven.
Episch archaische Landschaften mit schwimmenden Eisbergen. Sie wirken irgendwie beseelt – um diese animistische Beseeltheit aller Dinge, die Verknüpfung von Vergangenheit und Gegenwart, wußten die alten Inuits in ihren Gleichnissen von mythischen Mächten und Landschaften. Wenn der Riese ausatmete, wehte der Nordwind über die Weiten der Arktis…
Irgendwann komme ich durch den Kaiser-Franz-Joseph-Fjord, in dem einer der einer der markantesten Berge Ostgrönlands sichtbar wird: das Teufelsschloss, ein 1.340 m hoher, freistehender Berg. Das Teufelsschloss wurde 1870 während der Zweiten Deutschen Nordpolar-Expedition unter Karl Koldewey erstmalig gesichtet und wie folgt beschrieben:
„Ein kubischer Felskoloss streckte sich hier auf schmaler Basis als Landzunge weit hinaus in den Fjord. Unmittelbar aus dem blauen Wasserspiegel erhebt sich diese Masse gegen 1500 Meter hoch;
regelmässige rothgelbe, schwarze und lichtere Streifen zeigen die Schichtung seines Gesteins. Die Erkern und Thürmchen ähnlichen Vorsprünge an seinen Kanten verleihen ihm eine gewisse Aehnlichkeit mit einer zerfallenen Burg. Wir nannten ihn daher auch das Teufelsschloss.“
Teile dieser Berge liegen in glatten, fossillosen, noch aus Zeit der Einzeller stammenden Steinformationen, die an Nougat erinnern. Ihre ineinander verschmolzene Gesteinsschichten erzählen von Jahrmillionen Erdgeschichte, in der sich in den heute eisfreien Küstenstreifen vor etwa 1600 bis 400 Millionen Jahren bis zu fünf Kilometer mächtige Schichten aus Sedimenten und vulkanischen Schichten bildeten; vor allem aus Sandstein, Kalkstein und Basalt oder Haselnuss, Kakao und Vanille…
Jeder Farbwechsel der gemaserten, geschlierten, gestreiften bunten Berge ist ein Klimawechsel. Die Geschichte schwankender Meeresspiegel und Temperaturen wird zu einem geologischen Farbenrausch.
Doch der eindrucksvollste Berg, den ich sichtete war vielleicht der Grundtvigskirken. Er erhielt seinen Namen wegen der Form, die der des Turmes der expressionistischen neugotischen Grundtvigskirken in Kopenhagen ähnelt.
Seine Entstehungszeit betrug allerdings entgegen der von 1921 bis 1940 erbauten Kirche Jahrmillionen.
Zum Glück ist das Schiff nicht ohne Dich abgefahren!