51°36′ nördliche Breite, 12°38′ östliche Länge
Nicht mit dem Leipziger Malergenie, sondern mit einem anderem Meister des Ortes in Europas Mitte – B-A-C-H – begann mein einstimmender Auftakt am Vorabend der Reise. Hörte ein Live ! Konzert mit seinen ernst erhabenen Fugen und Chorälen, gespielt von Michael Schönheit, dem Organist des Leipziger Gewandhausorchester, welches es schon seit 1743 gibt. Fasziniert vom 18. Jahrhundert bewegen sich in Neo Rauch´s Welttheater die romantisch-aufklärerischen Männer mit Zylinder und sonstigen historischen Modeaccessoires, kontrastiert von zeitgenössischen Frauenfiguren, antichronologisch und vielschichtig, wie Zeitreisende, die ihren Lieblingsort in der Menschheitsgeschichte gefunden haben. Die meisten in der Galerie eigen+art auf der Leipziger Baumwollspinnerei in der „Handlauf“ genannten Ausstellung gezeigten Werke, alle beachtenswerterweise von 2020, zeigen Himmel mit dem unwirklich fahlem Licht aus den Visionen der Romantiker. Sie erzeugen entgegen dem haltsuggerierenden Ausstellungstitel eher ein Gefühl existentiellem Geworfenseins. „Der Handlauf ist zugleich auch eine Grenzziehung in der Horizontalen. Und in der Vertikalen. Er gibt uns auch Führung und dient natürlich auch dem unmittelbaren Aufstieg.“ Neo Rauch.
Kein Strahlenbündel wie im obigen Bild „Die Loge“ nur einige wenige aus der Zeit gefallene Gaslaternen beleuchten hingegen die futuristische Sphere ohne Horizontale und Vertikale gleich um die Ecke auf dem Gelände der Kirow-Werke.
Die Kirow-Werke (genannt nach einem früheren sowjetischen Staats- und Parteifunktionär) haben einen neuen, spektakulären Anbau: die sogenannte Niemeyer Sphere, eine Kugel aus Glas und Beton, die auf eine Ecke des alten Backstein-Gebäudes gesetzt wurde. Bei ihrer Einweihung diesen Sommer wurde übrigens die Suite Nr.3 für Violoncello von Johann Sebastian Bach gespielt.
Die Sphere wurde von Oscar Niemeyer bereits 2011 konzipiert. Angefangen hat alles mit einem Brief, den der Geschäftsführer der Kirow Werke, Ludwig Koehne, an den brasilianischen Architekten an der Cobacobana schrieb, um ihn für die Planung der Kantinenerweiterung anzufragen. „Kirow Leipzig“, gegründet Ende des 19. Jh, ist Weltmarktführer für Eisenbahnkrane. Koehne war Anfang 20 als die Mauer fiel und einer der ersten, die vom Westen in den Osten ziehen. „Westdeutschen war der Osten sehr fremd, wir sagten Dunkeldeutschland. Es war ein fremder Planet.“ Heute steht hier in Leipzig der Planet Moderne.
Der legendäre Oscar aus dem einst sozialistischen Bruderstaat sagte zu und schon wenig später war die Bauidee des Kugelbaus geboren, der in enger Zusammenarbeit mit dem Büroleiter des Studios Oscar Niemeyer, realisiert wurde. Wo eine Vision ist ist auch ein Weg…
Im oben erwähnten Brief stand schmeichelnd „Der Panoramablick, eine kurvige Gebäudeform“, „Ihre Architektur passt einfach zu gut für diese Bauaufgabe.“ Und, falls das noch nicht reichen sollte: „Als Kranbaubetrieb reizt uns zudem auch Ihr Ansatz, in Fragen der Statik zuweilen an die Grenzen des Machbaren zu gehen.“
Niemeyer hat viele Kuppeln gebaut, aber so konsequent zur Kugel hatten sich seine Kur- ven noch nie vollendet. Die Sphere ist der letzte von ihm entworfene und vollendete Bau bevor er 2012 im Alter von 104 Jahren starb. Oscar for ever.
Obwohl mein Lieblingsort in der Menschheitsgeschichte auch eher in die Zeit des Barock zurückdatiert, gehe ich gerne manchmal mit den Utopien der Moderne, der Vergangenheit der Zukunft, ganz besonders von einem meiner Lieblingsarchitekten (Siehe Blog Happy Bday Brasilia 22.04.2020) „fremd“.
In der Yin-und-Yang-artigen futuristischen Form der Sphere fügen sich Kuppelteile aus klassisch geweißtem Niemeyer-Beton und dunklen geodätischen Buckminster-Fuller-Glas Dreiecken harmonisch ineinander.
Das Kugelrestaurant heißt Céu-Dining (Himmel auf portugiesisch)- ein Name wird Programm. Die Faszination für seine archetypische Form kommt vielleicht von daher, dass das uns überwölbende Universum schon als Kugel gedacht wurde, als die Erde noch als Scheibe galt, bis dahin, dass sich in dieser Form das größte Raumvolumen mit der geringsten Wandfläche umspannen lässt. Von außen Globus, von innen eine Blase, die mir für einige Stunden ein sehr geborgenes Raumgefühl in dieser ungewissen Zeit bot.
Kredenzt wurde dort bei meinem Last Supper vergangene Woche ein 10 Gänge Menue vom Leipziger Koch Tibor Herzigkeit, der diesen Namen nicht zu Unrecht trägt. Einer der Höhepunkte der regional raffinierten Speisenfolge war das knackige Herbstgemüse des Leipziger Allerlei. Eine Erfindung, um die einst reiche Stadt Leipzig nach den napoleonischen Kriegen (1803-1815) vor Bettlern und Steuereintreibern zu schützen. Ein Stadtschreiber hatte vorgeschlagen: „Verstecken wir den Speck und bringen nur noch Gemüse auf den Tisch, sonntags vielleicht ein Stückchen Mettwurst oder ein Krebslein aus der Pleiße dazu. Und wer kommt und etwas will, der bekommt statt Fleisch ein Schälchen Gemüsebrühe und all die Bettler und Steuereintreiber werden sich nach Halle oder Dresden orientieren.“ Nach anderen Quellen stellte Leipziger Allerlei ein Zwischengericht einer festlichen Menüfolge dar, für das junges Frühgemüse verwendet wurde. Und last not least gab es noch eine deftige zum Ortsgeist passende Feijoada (Bohneneintopf, brasilianisches Nationalgericht). Bis auf weiteres wird die Sphere im Lockdown (light ? ) leider geschlossen sein.
Nur die Zeichnungen von Niemeyers Damen auf dem gebogenen Paravent werden die nächsten Wochen noch den Raum bevölkern.
Die Kurven in Niemeyers Werk erinnern an die Rundungen weiblicher Sinnlichkeit und sind eine Nachbildung organischer und biologischer geschwungener Formen, in Landschaft gegossene Frauen. Durch die Form seiner „tropischen Erotik“ dekonstruierte Oscar Niemeyer die Sprache der funktionalen Architektur der Moderne. Niemeyer ist ein Fetischist der geschwungenen Linie gewesen, vielleicht eher ein Nachfahre der gestalterischen Dynamik des Barock als ein Vertreter der klassischen Moderne. Er klagte eine internationale Architektur an, die ihren sozialen Idealismus und ihre gestalterische Freiheit verloren habe. Er schlug vor, „eine Architektur“ zu schaffen, „die ganz aus Traum und Phantasie, aus Kurven und großen, von überflüssigen Elementen freien Räumen besteht …Architektur als Erotik.
„Nicht der rechte Winkel reizt mich,…
Mich reizt die freie und sinnliche Kurve,
Die Kurve, die ich an den Bergen meiner Heimat finde,
Im gewundenen Lauf ihrer Flüsse,
In den Meereswellen,
Am Körper der Lieblingsfrau.
Aus Kurven besteht das ganze Universum,
Einsteins gekrümmtes Universum.“ Gedicht von Oscar Niemeyer
Und wenn der Thomaskantor wundersamerweise heute noch oder wieder leben würde und ein kleines Dinner Concerto in der Sphere geben würde könnte sich das vielleicht so anhören…