79º33′ nördliche Breite, 21º07′ östliche Länge
Nach der Insel Edgeøya „erobere“ ich heute die zweitgrößte Insel Nordaustlandet. Genauer zunächst die Palanderbukta, eine südliche Bucht des Wahlenbergfjords. Die Bucht ist nach dem schwedischen Polarforscher Louis Palander (1842-1920) benannt, der an mehreren Expeditionen teilgenommen hat, u. a. an der erstmaligen „Bezwingung“ der Nordostpassage 1878.
Das Klima ist der hohen geografischen Breite entsprechend hocharktisch und sehr viel niedriger als im Westen des Svalbard-Archipels. 80% der Fläche sind mit Eiskappen und Gletschern bedeckt. So hat es auch bei uns in Deutschland während der letzten Eiszeit ausgesehen.
Setze meinen Fuß, vielleicht als einer der ersten Menschen hier oben, auf die Insel. Sie steht exemplarisch für den extremen Lebensraum der polaren Wüste. Die baumlose Kältesteppe besteht aus Buchten, Sunden, Canyons und unendlichen Gletscherweiten. Sie diente schon zur Vorbereitung auf Marsexpeditionen…
Das Wasser sucht in den weitläufigen Plateauberg- und Hügellandschaften unter dem Eis seinen Weg zum Meer, in Strömen aus dem Gletschertor hinausfliessend.
Das Meer ist gesäumt von einem breiten Kiesstrand mit Treibholz, grösstenteils Lärchen in ganzen Stämmen, welches circumpolar mit Treibeis aus den Wäldern Sibiriens herbeigeschwemmt wird.
In den alten Mythen heisst es, dass die Menschen, von Göttern einst aus Baumstämmen am Meeresstrand geformt worden sind.
Ich durchstreife die karge Landschaft, sehe einige wenige letzte Blüten des ausklingenden arktischen Sommers und Rentierkot. Wovon nur leben diese Tiere hier?
Diese Frage beantwortet sich leichter am Alkjalfellet, dem eindrucksvollsten Vogelfelsen Svalbards.
An die 200.000 Vögel leben jetzt am Ende der Brutzeit auf diesen schroffen Felsvorsprüngen. Ein geologischer Sandwich aus Basalt /Kalkstein/Basalt. Da die Felswand stets von oben gut „gedüngt“ wird – entstehen „Hängende Gärten“ mit einer vielfältigen Pflanzenwelt.
Alkefjellet, bedeutet nichts anderes als „Lummenberg“. Unzählige Brutpaare der Dickschnabellumme brüten hier von April bis August; hinzu kommen Eismöwen und so weiter – bin keine Ornithologin.
Ein Vogelfelsen ist vergleichbar mit einem Hochhaus. Die verschiedenen Vogelarten bewohnen verschiedene Stockwerke.
Bei der Dickschnabellumme ist das Besondere, dass die Küken im Alter von rund drei Wochen ohne bereits fliegen zu können, sich aus der Höhe des Felsens in die Tiefe stürzen, angelockt von den Rufen des Vaters, der das Junge dann mehrere Wochen lang auf dem Meer weiter füttert.
Zwei Kameramänner, die ersten Menschen die ich seit einer Woche in Svalbard sehe, und für weitere Tage auch die letzten, kauern mit schwerem Gerät in den Felsvorsprüngen und filmen diesen anscheinend legendären „Lummensprung“. Nordaustlandet ist mit Ausnahme von einigen Forschern, die sich zeitweise dort aufhalten, unbewohnt.
Es gibt hier mehr Tiere als Menschen. Der Himmel über mir ist ganz schwarz vor lauter Vögeln. Es herrscht ein ohrenbetäubendes Gekreische, ständiges Kommen und Gehen bzw. An- und Abfliegen. Ich muss unweigerlich an „Die Vögel“ von Hitchcock denken und die etwas apokalyptische Vorstellung einer Erde ohne Menschen. Wie vor Hunderttausenden Jahren im Quartär.
Die Zeit vor dem Vogelfelsen vergeht wie im Fluge…
Am Ende entdecke ich noch einen Polarfuchs – die jungen Vögel sind sein Schlemmerparadies.
Wegen der schwierigen Eisbedingungen waren vor allem die östlichen Bereiche der Insel bis ins 20. Jh. hinein nur ungefähr bekannt, und selbst heute sind die Gewässer in dieser Region vielfach noch unvermessen und daher kaum zugänglich.
Fahren von daher ganz langsam und vorsichtig an der bis zu 430 Meter dicken und 8450 km² großen Eiskappe Austfonna entlang. Es ist die viertgrößte Inlandseisfläche der Welt, ihre Abbruchkante im Meer ist mit 190 km Länge die längste der Nordhalbkugel.
Fast andächtig schaue ich ins Eis – fahren immer tiefer hinein Richtung „Ewiges Eis“.
Einsam, trocken und kalt – ganz anders als hier nun am Äquator in Ruanda – crowded, warm und feucht.