46°41′ nördliche Breite, 9°76′ östliche Länge
Obwohl heute der 1. März, Tag des meteorologischen Frühlingsanfang ist, komme ich nochmal mit einem Schneepost – auch wenn ich unlängst auf den Inseln des Ewigen Frühlings war, bin ich doch tief im Herzen ein Wintergeist…hinaus in den Schnee zu gehen, nicht dem Nichts entgegen, sondern nur fort von einer verschmutzten und trivialisierten Welt. John Burnside, „What light there is“. Zumindest der abendliche Himmel wird ja noch von den Sternen und Sternbildern des Winters dominiert. Winter ade, scheiden tut weh.
In einer gefühlt reinen und hochgestimmten Welt befanden wir uns mitten im pandemischen Winter im Waldhaus. Die Flocken fielen nur so als ich aus der Hotelburg auf die Icehouse Skulptur hinabschaute. Als der Schnee nicht mehr fiel schien die kalte Sonne am Winterhimmel in pistenblau.
Das Waldhaus ist ein historisches Hotel und seit seiner Eröffnung im gleichen Familienbesitz: A Family affair since 1908. Es thront über Sils-Maria wie ein Schloss, zwischen silbernen Seen. Friedrich Nietzsche, Stammgast in Sils-Maria, nannte das Tal die »Wiege aller Silbertöne«.
Unsere Familie besucht das Hotel nun schon in fünfter Generation, allerdings mit jahrzehntelangen Unterbrechungen, so das es beim Eintreten in die Hotellobby nicht zu überschwänglichen Begrüßungen kommt. Als erster weilte der Urgroßvater meines Mannes während der Winterolympiade 1928 in St. Moritz dort mit seiner Tochter – zwei Generationen auf einen Streich. Gute 50 Jahre später dann der Vater und seit einigen Jahren wir als vierte-, mit meiner Tochter als die fünfte Generation. Ein Familien(t)raum.
Das Waldhaus befindet sich weitgehend im Originalzustand und versprüht auch heute noch als Festung der Muße einen mit Schweizer Understatement abgeschlichteten Belle Époque Charme.
Seit 1908 spielt, wie einst in jedem guten Hotel, zum Afternoon Tea ein Trio in der Halle zum Teekonzert. We love it ! Die Gäste lehnen lesend in Samtsesseln, „auf den Teetischen glänzen silberne Kännchen, unter der hohen Stuckdecke hängen vergoldete Kristallkronleuchter. Ein Kellner fliegt durch den Saal, hoch zugeknöpft, mit langen Schritten und erhobenem Kinn. Er balanciert ein Tablett zu einem der Tische, an einem anderen schenkt er Wasser nach, eine Hand hinterm Rücken. So muss es auf der Titanic gewesen sein. Nur dass das Waldhaus nicht auf einen Eisberg zusteuert, sondern sich langsam, Stück für Stück, in den Berg bricht“.
Alles ist wie immer, beziehungsweise damals, als Richard Strauss hier Champagner genoß und Hermann Hesse ganze Winter Briefe schreibend im Lesezimmer verbrachte. Eine Mischung aus Grandeur und Gemütlichkeit. „Das Weltende könnte stattfinden, und man würde davon im Waldhaus erst eine Woche später erfahren, durch eine unaufgeregte Information des Portiers.“ Martin Mosebach.
Kurz vor 18 Uhr endet die Teatime. In genüßlicher Erinnerung an diese gab es heute bei uns selbstgebackene Scones mit schneeweißer clotted cream: https://www.bbcgoodfood.com/recipes/classic-scones-jam-clotted-cream Auch für völlig backungeübte Firsttimer wie mich geeignet – unbedingt ausprobieren: Very yummy !
Das Haute Engadine – eine Liebe fürs Leben und Ort für „haute“ Gefühle. Vielleicht reise ich bald nochmals ins Engadin – nicht zum Welt- sondern zum Winterende.
Schönheit ist auch unter dem Gefrierpunkt immer noch Schönheit frei nach Joseph Brodsky – welcher ein großes Vorbild von John Burnside ist, winterliche Seelenverwandte.
Das Weltenende kann man dort getrost verpassen