47°37‘nördliche Breite, 8°54‘ östliche Länge
Nachdem das grenzüberschreitende Reisen wieder unbeschwerter möglich ist, berichte ich endlich wieder von unterwegs…vom Rieterpark in Zürich, ein zur legendären Villa Wesendonck gehörender 1855 angelegter Landschaftspark. Dort stehen wunderschöne alte Bäume und ein Delphinbrunnen aus dem Rokoko. Er ist schon mehrmals innerhalb der Stadtgrenzen umgezogen, 1943 ersetzte man ihn durch eine Kopie; das Original kam in den Rieterpark.
Um Kopien und Originale geht es auch in der aktuellen – Kunst der Vorzeit – Ausstellung des Museum Rietberg, und zwar um die Felsbilder der Frobenius Expeditionen.
Das Museum Rietberg, mit seiner Sammlung aussereuropäischer Kunst, ist 2006 durch einen edel schlichten Neubau, welcher sich im Untergrund verbirgt und der Villa Wesendonck nur mit dem smaragdgrünen Glasvorbau seines Foyers gegenübersteht, vergrößert worden. Als Ornament durchzieht ein Smaragd Kristallgitter die Glasflächen, ein lebhaftes Spiel von Durchblicken, Verdoppelungen und Spiegelungen erzeugend.
Wenn wir in die, einer Höhle des Unterbewußten gleichen, 12 Meter tief in den Moränenhügel eingesenkten, Ausstellungsräume mit 130 Felsbildern in gedämpften Erdfarben auf grauen „Fels“ Wänden, hinabsteigen, blicken wir tief in Raum und Zeit zurück. Oder sogar jenseits von Zeit und Raum. In eine Zeit in der nach der „stoned ape“ theory von Terence McKenna die menschliche Evolution durch Einnahme halluzinogener Pilze einen großen Entwicklungssprung machte und begann Kunst zu schaffen.
Der Ethnologe Leo Frobenius (1873-1938) war wohl weniger „stoned“ als von einer Mission besessen: in zahllosen Expeditionen ließ er auf vier Kontinenten fast alle bedeutenden Felsbilder von zwanzig KünstlerInnen abmalen. Gezeichnet statt s/w fotografiert, weil nur so die teils mehrere Meter großen, auf unebenen Oberflächen der Höhlenwände gemalten, farbigen Steinzeit-Wimmelbilder mit Hunderten Figuren auf ein Bild zu bannen waren.
Frobenius ist dadurch nicht nur zum Bewahrer von Ur-bildern, sondern auch zu einem der Geburtshelfer der modernen Kunst geworden. Die aufs Äußerste reduzierten prähistorischen Strich-Menschen, Tiere, oft Mischwesen aus beidem (was bei den in Tierfelle und Häute gekleideten Urmenschen nicht verwundert), selten Pflanzen (zeitlich entstanden die Höhlenmalereien vor den Agrargesellschaften), dafür stark stilisierte Naturformen die Frobenius „Formlinge“ taufte, scheinen auf den ersten Blick Szenen von Interaktion mit der Welt zu sein. Gruppen von Menschen auf spindeldürren Beinen jagen mit Pfeil und Bogen Antilopen, Rinder und Zebras. Sind es Jagdzüge, Prozessionen, Schlachten?
Alle Darstellungen eint der narrative turn: Immer wird ein Erlebnis für die Nachwelt erzählt und zwar so, dass es auch postum noch verständlich ist. So schildert beispielsweise das obige 1929 abgezeichnete Panorama „Große Elefanten, weitere Tiere sowie Menschen“ auf sieben mal drei Metern Begegnungen von Dutzenden von Menschen und Tieren; es wurde in mehreren Schichten über Jahrtausende erweitert und kann so pars pro toto und parakontinental für alle Bilder der Ausstellung stehen: ein großes Steinzeitmaler Pasticcio.
Wissenschaftler datieren die ältesten Felsmalereien auf etwa 40’000 Jahre. Frobenius spricht eher unbestimmt von mehreren Jahrtausenden, immer wieder stösst man bei ihm auf Angaben wie „2000 vor Christus bis heute“, womit er zum Ausdruck brachte, dass die Malereien immer wieder übermalt und überarbeitet wurden, ein „Work in Progress“. Die KünstlerInnen seiner Expeditionen arbeiteten mit ihren Bildern von Bildern an diesem „Work in Progress“ weiter und wurden so Teil der alten Tradition der Nachschöpfung. Dazu fuhren sie durch die Sahara oder das australische Outback, bauten ihre Staffeleien in der sengenden Sonne oder in feuchtwarmen Höhlen auf und kopierten die Bilder, die sie an den Felswänden sahen. Vielleicht waren wie bei „Schwimmer in der Wüste“ die Schwimmszenen real und Zeugnis eines Klimawandels im Zeitraum nach der Entstehung oder eine stark veränderte Wahrnehmung der Realität durch psychotrope Substanzen, schamanistische Rituale ?
„Eine der vielen, niemals zu beantwortenden Fragen zur Kunst ist die Frage nach ihren Ursprüngen. Während Musik, Tanz und Theater kaum Spuren hinterlassen haben, haben Fels- und Höhlenmalereien die Jahrtausende überdauert. Die Entdeckung altsteinzeitlicher Höhlenbilder Ende des 19. Jh veränderte die Vorstellungen über die Anfänge von Kunst von Grund auf“.
Felsmalereien tourten ab den 1930er-Jahren durch Europa – Giacometti, später Schöpfer von dünnen hochaufstrebenden Figuren, sah sie 1931 in Zürich, für ihn stand das Filigrane der Steinzeit-Figurinen im Vordergrund, (kleiner Exkurs – mein Schwiegervater baute einst die Kunstsammlung einer Bank auf und erwarb dafür Giacomettis „Schreitender“ zu einem noch recht niedrigen Betrag, was bei jedem Familienfest zum hätte, hätte er diesen für sich selbst erworben, führt…) Pollock 1937 in „40 000 Years of Modern Art. A Comparison of Primitive and Modern“ ein Titel, der die Geburt der modernen Kunst mit der Entstehung der Kunst verbindet und zu einem bis heute anhaltenden „archaic revival“ führte. Für ihn war das perspektivlos entgrenzte All-over das Inspirierende. Alle Aufgriffe verbindet die Suche nach einer universalen, antinationalen Bildsprache der Semi-Abstraktion. Sind Felsbilder der Ursprung der Moderne?
Das Frobenius Institut befindet sich in meiner Heimatstadt Frankfurt, wo 1932 Frobenius Honorarprofessor für Ethnologie und 1934 Direktor des Museums für Völkerkunde wurde. Wenn zukünftige Archäologen unter dem Schutt von Frankfurts Nachkriegsstraßen neben Konservendosen amerikanischer G.I.s zerstörte Kultgegenstände Afrikas und Ozeaniens finden, müssen sie nur in den Archiven nachlesen: Zigtausende nicht rechtzeitig ausgelagerter Objekte des Instituts sind der Bombardierung 1944 zum Opfer gefallen. „Die kostbaren Abmalungen und Nachzeichnungen aber haben den Feuersturm überlebt und sind nun in ihren faszinierendsten Exemplaren in Zürich zu entdecken. Sie sind heute oft die einzig erhaltenen Abbilder der uralten Felsbilder und bekommen dadurch fast die Aura eines Originals“.
1935 schrieb Frobenius über die Felsmalereien: Dieses „Kinderspiel“ ist der Urquell aus heiligsten Grundwässern aller Kultur. Aus diesem Spiel entstehen das Maskenspiel, das Mysterienspiel und das auf den Felswänden abgebildete „kosmische Spiel“: „Denn in diesem Spiel tritt die Fähigkeit zutage, sich seelisch und in voller Wirklichkeit einer zweiten Erscheinungswelt hinzugeben, indem der Mensch sich von einer Erscheinung, die ausserhalb seiner natürlichen Beziehungen und ihrer selbstverständlichen Ursachen liegt, ergreifen lässt.“ „Ergriffenheit“ steht für ihn am Anfang jeder kulturellen Äusserung.
Zu „Ergriffenheit“ führen, zumindest bei mir, auch die Wesendonck-Lieder, ein Liederzyklus von Richard Wagner nach Gedichten seiner Muse Mathilde Wesendonck. Diese fand er in ihr ab 1852 in seinem Schweizer Exil auf dem „grünen Hügel“ des Rietberg, wo pikanterweise ihr Gemahl, Otto Wesendonck, ein wohlhabender Seidenhändler, ihn mäzenierte. Dem Verhältnis der beiden stand allerdings nicht nur er, sondern auch Wagners damalige Ehefrau Minna im Wege. Es bestand bis zum abrupten Ende, als Minna einen Brief Wagners an Mathilde abfing und einen Eklat provozierte, der zur Trennung führte. Wagner verließ Zürich in unerfüllter Sehnsucht zueinander und zu Venedig, mein nächstes Trans Europa Ziel, um dort die Komposition Tristan und Isolde fortzusetzen. Mit dieser Oper setzte Wagner seiner ersten und einzigen Liebe Mathilde Wesendonck ein musikalisches wie auch literarisches Denkmal: Love lives forever – sowie die Felsbilder…
Träume, die wie hehre Strahlen in die Seele sich versenken, dort ein ewig Bild zu malen: Allvergessen, Eingedenken! (aus Wesendonck-Lied,Träume)
Sausendes, brausendes Rad der Zeit,
Messer du der Ewigkeit;
Leuchtende Sphären im weiten All,
Die ihr umringt der Weltenball;
Urewige Schöpfung, halte doch ein,
Genug des Werdens, laß mich sein!