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45°26′ nördliche Breite, 12°20′ östliche Länge

Heute endet die 60. Biennale di Venezia. Mein Favorit war der Deutsche Pavillon: GERMANIA.

Der Haupteingang ist durch Erde versperrt. Als ich im Mai da war – siehe Photo unten – war es wirklich nur Erde – zur Finissage jetzt im November ist etwas Gras darüber gewachsen…

Die braune Erde drückt sich zwischen den monumentalen Stützen hindurch und versperrt den Haupteingang. Passend zum übergeordneten Narrativ des Pavillons: Thresholds – Schwellen.

„THRESHOLDS sind Orte, an denen niemand bleiben kann – Orte, die es nur gibt, weil etwas war und wenn etwas sein wird. THRESHOLDS sind Übergänge, Linien zwischen Orten und Zeiten. THRESHOLDS sind dafür da, überschritten zu werden”. Çağla Ilk – Kuratorin Deutscher Pavillon

Der Pavillon möchte an dieser zur Schwelle werdenden Grenze und den mit ihr verbundenen Träumen und Geschichten mit zwei Positionen anknüpfen. Die eine lass ich links liegen (sonst würde der Umfang meines Blogs gesprengt) und die der deutsch-israelischen Künstlerin Yael Bartana betrete ich durch den rechten Seiteneingang.

Sie bespielt beide Seitenflügel sowie die Apsis der zentralen Halle. Das Schwellen Thema wird in ihrer mehrteiligen postapokalyptischen Medien-Installation „Light to the Nations“ als technofuturistische Erlösung gestaltet. Angesichts des Zustands unseres Planeten macht sich ein Kollektiv mit einem Raumschiff in eine unbekannte Zukunft auf.

Die Künstlerin entwirft „die Schwelle einer als katastrophal empfundenen Gegenwart – einer Welt am Rande der totalen Zerstörung” und sucht nach „Möglichkeiten des zukünftigen Überlebens durch eine vielschichtige Arbeit zwischen Dystopie und Utopie“.

Gleich links vom Eingang steht das spacig inszenierte Groß­modell eines 31 km langen Raum­schiffs im Maß­stab 1:5000.

Das Layout des Schiffs basiert mit seinen zehn Sphären auf ein kabbalistisches Sephiroth-Diagramm aus dem 15. Jh. mit zehn gött­lichen Emana­tionen, die in der mys­tischen Tradi­tion des Juden­tums die Struk­tur der Schöpf­ung fassen: die Krone, Weis­heit, Ver­stand, Güte, Stärke, Ewig­keit, Pracht, die Basis, das Reich. Im Zen­trum aber steht die Schön­heit.

Jede Sphäre findet ihre räumliche Entsprechung in einer der zehn Kapseln des Raumschiffes.

Schiffshauptquartier, Weltraumforschung, Technik, medizinisches Zentrum, Lernzentren, Landwirtschaft, kulturelles Erbe, öffentlicher Bereich, Wohnbereich und Recycling.

Es heisst das die Sephiroth alle Facetten Gottes enthalten. Sie symbolisieren die Vorstellung von Gott als En Sof − als Ewigkeit, die auf der Reise des Mehrgenerationen-Raum­schiffs dem endlosen Weltraum entspricht.

In einem Akt der Erlösung transportiert das Light To The Nations Schiff Menschen zu neuen Galaxien und Planeten. Benannt nach Jesaja 42,6 verheißt es einen im wahrsten Sinne des Wortes Ausweg. Es steht angesichts der menschengemachten Zerstörung des Planeten Erde im Dienste der Menschheit und sichert das Überleben künftiger Generationen. My home is my spaceship? Diese Reise mit offenem Ausgang wird sich über Äonen hinziehen – dystopisch und utopisch.

In einem Seiten­raum des Pavillons führt ein auf eine Kuppel projiziertes 360°Video durch die Habitate des Raum­schiffs.

Bartana überlagert imaginäre Technologien mit mystischen Lehren und nutzt das Schiff als Vehikel der Erlösung, analog zur Merkaba, dem kabbalistischen Wagen, mit dem sich der Mystiker dem Thron Gottes nähert. Die Reise des Raumschiffs bezieht sich auf das messianische Versprechen einer besseren Zukunft und Tikkun Olam, ein ethisch-mystisches Konzept zur Wiederherstellung der Welt. Ohne die Anwesenheit von Menschen, die sie zerstören, kann die Erde heilen, und ohne bisherig herrschende Einschränkungen können auf dem Schiff neue Gesellschaftsformen entworfen werden.

Das Schiff dient als Blaupause für den potenziellen Bau weiterer Raumschiffe und lädt, solange die Erde heilt, die Menschheit ein, sich kollektiv auf Reisen zu begeben. Space Odysee.

Auch wenn die Arbeit auf jüdische Traditionen und auf die spezifische Geschichte von Flucht und Exil referenziert, geht Light To The Nations als Vision bewusst über religiöse, ethnische, nationale und staatliche Grenzen hinaus. Insbesondere nach dem schicksalhaften Datum des 07.10.2023. Seltsamerweise begann die Arbeit zu dem Projekt in Venedig einen Tag vorher.

Das Raumschiff lässt traditionelle Vorstellungen von Raum, Land und heimatlicher Erdverbundenheit des Menschen hinter sich, es trotzt auf seiner Reise in ferne Galaxien der Gravitation und dem menschlichen Bedürfnis nach Zugehörigkeit.

Mit-Eins-Anders im Makom – hebräisches Wort für Ort und Gott zugleich. Space of God. God of Space.

Das Erlebnis unter der Kuppel ist immersiv. Obwohl ich schon das dritte Mal darunterlege bin ich wieder ganz hin und weg…

Als letztes sehe ich mir noch in der Apsis die monumen­tale choreographierte Videoarbeit: Farewell an. Ein Abschieds­ritual für die Raum­fahrer:innen. In einer Waldlichtung bei Vollmond bewegen sich in weiße Gewänder gehüllte Tänzer:innen zu einem ätherischen Tanz, der an Vorbilder der 1920er erinnert. Aber auch an die dem Element Luft zugeordneten Naturgeister der Sylphen und den Geist der Romantik, den die Transformation des Menschen und das Unheimliche faszinierte.

Kurz vor einer Reise an der Schwelle zum Unbekannten, die Grenzen von Zeit und Raum transzendierend: völlig losgelöst…von der Erde schwebt das Raumschiff schwerelos…

Dazu ist wunderschöner Sound zu hören. Eine Assemblage aus verlorenen jüdischen Liedern, armenischen Gesängen, Minimal und Wagner. Nur in der Tonspur überlagern sich die beiden ausgestellten Positionen – voller Sehnsucht und Pathos. Opera of the future? Vielleicht inspiriert vom Götterdämmerung Besuch der Kuratorin mit Bartana in Bayreuth.

Die gestählten Körper in irgendwie völkisch anmutenden Kreistänzen sind ein mehrfach gebrochenes Echo auf den Nazibau. Leni Riefenstahl lässt grüßen…

Alles ist in ein mysteriös vernebeltes Halbdunkel getaucht, das unwillkürlich düstere Erinnerungen an die Vergangenheit hervorruft, als 1939 hier im Zentrum des Pavillons die monumentalen Skulpturen des, von Hitler in die Gottbegnadetenliste aufgenommenen, Bildhauers Arno Breker gezeigt wurden.

Yael Bartana, Farewell, 2024 as part of Light To The Nations, 2022-2024. Einkanal-Video, 15:20 Minuten

Auch der Fackel­träger in Helden­pose spielt auf die faschistische Ästhetik des Pavillon­s an.

Wehret den Anfängen!

Auf dem Höhepunkt des immer ekstatischer werdenden Gruppenrituals setzen die Tänzer:innen Tiermasken auf − ein Pferd, ein Esel, ein Widder. Ein weiterer Verweis auf das apokalyptisch-messianische Narrativ oder einfach eine spielerische Erinnerung an Bartanas Kindheit, wo sie gemeinsam mit vielen Tieren in einem Kibbuz lebte?

Die gesamte Choreographie greift auf die Labanotation zurück, ein System, das Rudolf von Laban im frühen zwanzigsten Jahrhundert entwickelte. Er prägte den modernen deutschen Ausdruckstanz, der kollektive und rituelle Bewegungen verbindet und sich wie bei Bartana mit sozialen Themen auseinandersetzt. Mit Labanotation kann jede Form menschlicher Bewegung aufgezeichnet werden: Basis ist die natürliche menschliche Bewegung, jede Veränderung muss notiert werden.

Laban war ursprünglich als Choreograph für die Propagandafilme der NS-Zeit vorgesehen, doch Göbbels wollte nicht ihn, sondern Riefenstahl. Diese war sehr inspiriert von Laban, verband jedoch seine Expression mit noch mehr heroischen Pathos, was dem damaligen Zeitgeist besser entsprach.

„Selten hat der Deutsche Pavillon so überwältigt.“ (ZEIT Online)

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