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49°02′ nördliche Breite, 2°04′ östliche Länge

Die nächste soziale Wohn(t)raum Utopie meiner Bofill PoMo Tour ist in Cergy-Pontoise, ein Banlieue nordwestlich von Paris. Wir bewegen uns in der kunstgeschichtlichen Referenz um ein Jahrhundert vor, vom gestrigen barocken Versailles – zum Neoklassizismus Palast für das Volk.

Ich war eine von wenigen „Weißen“ an diesem grauen Herbstnachmittag auf der Axe Majeur in C. Hier lebt die dritte Generation der Franzosen mit Migrationshintergrund. „Auf obskure Weise waren sie die Eingeborenen einer inneren Kolonie, über die wir die Kontrolle verloren haben.“ Annie Ernaux

Cergy ist übrigens auch die utopische Vorstadt der Annie Ernaux. Ich lese gerade ihr mit dem Nobelpreis für Literatur 2022 ausgezeichnetes Buch: Die Jahre – sehr zu empfehlen! Sie lebt dort seit 50 Jahren: „Ich habe gerne dort gelebt, an einem kosmopolitischen Ort, (. . .) in einer französischen Provinz, in Vietnam, im Maghreb oder in der Elfenbeinküste.“

Drei Kontinente an einem Tag – so fern, so nah (nur vier Stunden entfernt von meiner Heimatstadt).

Die Axe Majeur ist eine in den 1980ern am Reißbrett entworfene Nouvelle Cité in Form einer 4 km langen Achse. Sie beginnt am Bahnhof wo ich ausgestiegen bin und führt über das bunte Treiben des Marktplatzes zum sozialem Wohnungsbau in historisierender Neoklassizismus-Optik mit einem zentralen 36 Meter hohem Obelisken.

Postmoderner Palladio Style mit Fertigbauteilen.

Schuß-und Gegenschuß. Architektonisches Mittelmaß geht anders…

Aus dem Wohnkomplex führt die Achse weiter geradeaus auf die Parkanlage mit monumentalen Säulen zu – Länge läuft…

Bei näherem Hinsehen sind es zwölf freistehende Betonsäulen, 10 Meter hoch – schlicht und erhaben.

Das antike Setting erinnert mich an ATHENA – im September bei den Filmfestspielen in Venedig uraufgeführt. Athena ist im neuen Film von Romain Gavras keine antike Stadt, sondern eine Pariser Banlieue Hochhaussiedlung im Jahr 2022. Der Vorort wird zum Schauplatz einer (griechischen) Tragödie.

Athena ist in der griechischen Mythologie die Göttin der Weisheit, der Strategie und des Kampfes. Doch während der Bürgerkrieg ausbricht, bleibt keine Zeit für eine Strategie oder gar Weisheit. Was bleibt, ist der Kampf. Ein Kampf, der nur verloren werden kann. Das ist der Kern der griechischen Tragödie

Von den Säulen führt eine große Freitreppe hinab zu Ehren der Gefallenen der Weltkriege.

Und dann weiter als skulpturale Landschaftsachse bis zum Fluss. Die Freianlagen hat Bofill gemeinsam mit dem israelischen Bildhauer Dani Caravan gestaltet.

Die Promenade hat 12 thematische Stationen mit verschiedenen symbolischen Bedeutungen: die 12 Stämme Israels, 12 Apostel, 12 Tierkreiszeichen, 12 Monate. Diese sollen identitätsstiftend sein – auch für die überwiegend muslimische Bevölkerung?

An der Hangkante des Tales gibt die Axe Majeur den Blick über eine künstlich angelegte Insel auf der anderen Seite der Oise frei und referenziert auf die großen, historisch bedeutsamen Achsen von Paris.

Und auf die Parkomania Fürst Pücklers mit seiner Grab-Pyramide im See des Park Branitz, wo ich koinzidenzialer Weise ein Wochenende vorher war. Die Parklandschaft gilt als der letzte bedeutende Englische Landschaftspark auf dem Kontinent. Blog folgt die Tage…

Auf dem Rückweg laufe ich auf die größte Bahnhofsuhr der Welt zu. Sie hängt am Bahnhof Cergy und war schon im Science-Fiction Film Brazil zu bewundern. Es wird Zeit wieder zurück nach Downtown Paris zu fahren. Am nächsten Tag werde ich ganz klassisch unterwegs sein: Tuilerien, Musée de l’Orangerie, Bouillon Julien, Opera Bastille, Brasserie Lipp – bourgeoises Kontrastprogramm.

„Etwas von der Zeit retten, in der man nie wieder sein wird.“ Annie Ernaux

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