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Seit mehr als vier Wochen bin ich in meinen vier Wänden. Zeit genug um über die Wand an sich zu sinnieren. „Wand“ bezeichnet meist die seitliche, meist senkrechte, Begrenzung eines Raumabschnitts oder Gebäudes. Es gibt Innen- und Aussenwände. Und Aussenwände im Innen worüber ich später noch erzähle. Wände schützen den Raum den sie umgeben und sind raumbildend, indem sie das Raumvolumen in getrennte Raumabschnitte unterteilen. Massiv oder offen und fliessend, mobil flexibel, je nach Funktion oder persönlicher Vorliebe. Die Ur-Wand war, nach einer These von Gotthilf Semper, eine gewebte Wand in einem temporären zeltartigen Gebäude.

Urhütte

Später wurden die aus dünnen Asten geflochtenen Wände dann noch mit Mörtel hinterfüllt. Die Ur-Wand passt zur Etymologie der Wand von ahd. „das Gewundene, Geflochtene“ zu want „winden“, drehen, flechten. Wie es aufmerksamen Lesern meines Blogs sicherlich schon aufgefallen ist, suche ich oft nach Spuren, der „Archäologie“ von Wörtern, die mich zu deren Herkunft, Geschichte und tieferen Bedeutung führt. Was aber ist die innewohnende Wahrheit von Wänden ? Wie massiv ist eine Wand, entsteht sie nicht vielmehr im Auge des Betrachters ?

Szene aus „Die Wand“ am Gosausee

So wie in der Literaturverfilmung „Die Wand“ von 2012 nach dem gleichnamigen eigenwilligen Roman von Marlen Haushofer aus dem Jahr 1963. Es ist ein Kammer- bzw. eher Berg- und Talspiel in der grandiosen Naturkulisse des österreichischen Salzkammerguts, über das Leben einer 40 jährigen Frau, die durch eine plötzlich auftauchende, undurchdringliche Wand von der Welt abgeschnitten wird. Die Frau ist zu Gast in einer Jagdhütte. Als sie morgens aufwacht, ist das Bett der Bewohner die sie eingeladen hatten leer. Zusammen mit ihrem Hund macht sie sich auf die Suche nach Ihnen und stößt dabei -„Simsalabim„- gegen eine unsichtbare, glatte Wand, die anscheinend über Nacht um den Wald herum entstanden ist und die sie nicht durchbrechen kann.

Szene aus „Die Wand“ mit Martina Gedeck

Daraufhin lebt die Frau eingesperrt mit Hund, Katze, Kuh- und Waldtieren vor sich hin. Nach ein paar Monaten zieht sie um in eine noch idyllischere, verlassene Almhütte. Sie ist und bleibt bis zum Ende isoliert vom Rest der Welt. Sie musste mit ihrem gewohnten Leben brechen, um in einer fremden Welt ein völlig neues Leben zu führen. Absolute Einsamkeit oder Splendid Isolation ?

Szene aus „Die Wand“ mit Martina Gedeck

Ich bin sogartig in die Abgeschiedenheit dieser Welt hineingezogen worden, wo ausser Lichtveränderungen im Wandel der Jahreszeiten fast nichts passierte, was mir nach Wochen von Kontaktsperre, häuslicher Isolation und Bedrohung durch ein unsichtbares Virus, gar nicht so schwer fiel. Wobei mir auffällt, dass ich seit einigen Tagen immer häufiger von Menschen die ich kenne höre, dass sie auf einer Insel sind, wo sie eigentlich nicht sein dürften oder sich mit Freunden zum Essen treffen. Bin ich, wie die Schauspielerin, die Einzige die noch von einer Wand umgeben ist und keine Teilhabe an der Welt hat ? Sie hat zwar anfangs einmal versucht sich ein Erdloch unter der Wand zu graben, mit ihrem Auto hindurch zu fahren, was jedoch nur zu einem Totalschaden führte, oder über einen steil aufragenden Hügel ins nächste Tal zu kommen. Aber alles vergebens, wo immer sie war, war auch die transparente Wand. „Es scheint, als habe ein großes Unglück alle – zumindest aber alle ihr durch die durchsichtige Wand erkennbaren – Lebewesen tödlich erstarren lassen. Die Ich-Erzählerin ist durch die rätselhafte Wand vor diesem Unglück geschützt und zugleich aber auch gefangen. Da sich das von der Wand umschlossene Gebiet über mehrere Jagdreviere erstreckt, lernt die so Isolierte allmählich, sich von den verbliebenen Vorräten, den Früchten und Tieren des Waldes und ihrem Garten zu ernähren“. Nicht mehr an die Interaktion mit Menschen gewöhnt, löst sich ihr Individualismus nach und nach auf und verwandelt sich in eine entrückte „unio mystica“ in der die Protagonistin sich zum ersten Mal in ihrem Leben „besänftigt“ fühlt, nicht glücklich aber einverstanden mit ihrem Schicksal. Autistischer Ökofeminismus. Die Wand hat sie von ihren Mitmenschen getrennt – zugleich aber ist die Trennwand zwischen Mensch, Tier und Natur eingerissen. Die Grenze zwischen Außen und Innen ist verschwommen.

Schönheit und Schrecken, Horror and Delight hausen in der erhabenen Bergwelt dieses beklemmenden Lo-Fi-Science-Fiction Endzeitdrama im Heimatfilm Setting eng beieinander. Traum, Alptraum, Depression ?

Szene aus „Die Wand“ mit Martina Gedeck

Die blauschattige Melancholie der Wolkenlandschaft durch welche die Wand-Erzählerin wandert um zu schauen, ob es im Tal Anzeichen von Leben gibt, irgendwo Rauch aufsteigt, oder alles in einer rätselhaften Erstarrung versteinert ist, kann auch allegorisch als existenzielle Einsamkeit des Menschen, als Geworfensein, verstanden werden. Die Wand zwingt sie, sich ihrer Angst zu stellen, da sie nicht mehr vor sich selber fliehen kann. Im dritten Jahr (Ich werde schon nach einem Monat Isolation ungeduldig) ! schreibt die Frau, basierend auf ihren Notizen, auf den Rückseiten von Kalenderblättern, einen Bericht über ihre Zeit im Wald. Der Film endet, als sie alles Papier in der Hütte vollgeschrieben hat. Ihr Schicksal bleibt offen.

Ich habe zum Glück noch genügend digital paper um über die Bedeutung der Wand in Fichtes transzendaler Philosophie um 1800 zu schreiben. Es ist überliefert das er seine Vorlesungen sehr oft mit der Aussage: „Denken Sie die Wand, und dann denken Sie den, der die Wand gedacht hat!“ anfing. „Im Denken der Wand denken wir eigentlich nicht mehr den Gegenstand selbst, sondern wir denken unsere Art, wie wir den Gegenstand gedacht haben; also eine Reflexivität des Denkens ereignet sich. Was wir dann denken, ist unsere eigene Tätigkeit.“ Die Gedanken sind also selbstbestimmt und von daher frei. Bestimme ich die Wand oder lasse ich mich durch etwas Fremdes, wie beispielsweise eine Wand bestimmen ? Doch auch das freie Ich von Fichte stößt immer wieder auf äußere und innere Widerstände, die es bewältigen und überwinden muss.

Silsersee, 2020

Umso einprägsamer sind die widerstandslosen Momente, wie mein Wintertag am Silsersee. Das Wasser des Sees sah aus wie ein flüssiger Spiegel, der die bewaldeten Hänge und schneebedeckten Felsen als zweite Landschaft reflektiert, schön und unerreichbar, wie hinter einer magischen Wand

Als ich Anfang des Jahres, nicht in den Österreichischen, sondern in den Schweizer Alpen, in Graubünden war, fühlte ich mich frei, es gab es noch keine „Wand“ um mich herum, nur schroffe blau-silberne Felshänge. Senkrechte Gipfel der Romantik: Entzückungsspitzen.

Auf die Berge will ich steigen, 
Wo die frommen Hütten stehen,
Wo die Brust sich frei erschließet,
Und die freien Lüfte wehen.

Auf die Berge will ich steigen,
Wo die dunkeln Tannen ragen,
Bäche rauschen, Vögel singen,
Und die stolzen Wolken jagen.

Lebet wohl, ihr glatten Säle!
Glatte Herren! glatte Frauen!
Auf die Berge will ich steigen,.
Lachend auf Euch niederschauen.

Heinrich Heine, Buch der Lieder, 1827 

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