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Ikone „Einzug nach Jerusalem“, Manfred Stumpf, 1986 (Wikipedia)

Heute ist Palm- und Passionssonntag. Dominica in palmis de Passione Domini. Die Holy Week beginnt. Oder wie es im deutschsprachigen Raum heisst die Karwoche. Bisher hatte ich mir nie Gedanken gemacht was Kar (ahd. kara ‚Klage‘, ‚Kummer‘, ‚Trauer‘) bedeutet. Da sind wir dieses Jahr wohl mitten im Thema. … „O Woche, Zeugin heiliger Beschwerde ! Du stimmst so ernst zu dieser Frühlingswonne, Du breitest im verjüngten Strahl der Sonne des Kreuzes Schatten auf die lichte Erde.“… (Auszug aus dem Gedicht Karwoche von Eduard Mörike)

In der ikonischen Zeichnung „Einzug nach Jerusalem“ von Manfred Stumpf, die mir für den heutigen Tag passend schien, sitzt ein frontal aus dem Bild starrender nackter Alien Mönch mit einem beidhändig festgehaltenen Palmwedel auf einem Esel. In späteren Werken wird der Künstler, der sich in seinen Arbeiten immer wieder mit der christlichen Symbol- und Bildwelt auseinandersetzt und diese in einen motivischen Zusammenhang mit der Realität der Gegenwart bringt, den Palmzweig aus der Ikone lösen und als Einlösungsmotiv der Gottwerdung des Menschen auch in andere seiner Werke übertragen. Der Esel „… war nach Sach 9,9 EU ein Sinnbild des gewaltlosen Friedenskönigs und der Bescheidenheit“ (Wikipedia).

Am Palmsonntag wird im liturgischen Kirchenjahr des Einzugs von Jesus in Jerusalem gedacht. „Zum Zeichen seines Königtums jubelte das Volk ihm zu und streute dem nach Jerusalem Kommenden Palmzweige zu“ (Aus den Evangelien). Palmen wurden damals als heilige Bäume verehrt und galten im ganzen Mittelmeerraum als Sinnbild des Lebens und des Sieges, insbesondere in Israel aber auch als Symbol für die Unabhängigkeit und den siegreichen König. Deshalb stellte der Einzug nach Jerusalem für die Römer eine Provokation dar. Die Palmweihe gehörte früher, bevor sie vielerorts auf den christlichen Palmsonntag gelegt wurde, zu den heidnischen Osterbräuchen. Die geweihten Zweige sollten nicht nur das Haus vor Blitz und Feuer schützen, sondern sie wurden auch mit den Schalen der Ostereier und den Kohlen der Osterfeuer in die Felder vergraben, um diese fruchtbar zu machen.

2013 war ich in der Osterwoche im Epizentrum Jerusalem, dem christlichen Nabel der Welt, übrigens auch eine Stadt mit einer eigenen Farbidentität, bedingt durch den Jerusalemstein, ein heller Kalkstein, sogar die Gräber auf dem Ölberg sind aus diesem Stein (siehe Blog Farbrausch 02.04.2020). Ich bin, wie die meisten der Besucher, die Via Dolorosa, ein nach dem Leidensweg von Jesus benannter Prozessionsweg (lat. Der schmerzhafte WegLeidensweg), entlanggegangen. Auf dem Rückweg von der letzten Station der Grabeskirche kamen einem einheimische Kreuzträger entgegen, die diese weniger leidend als routiniert und professionell wieder an Station 1, wo sich früher die römische Festung Antonia befand, zurücktrugen, dabei lässig eine Zigarette rauchten, mit der freien Hand ihr Handy ans Ohr hielten, telefonierten und den nächsten Kunden klarmachten.

Die Via Dolorosa führt durch Souks, verwinkelte teils mit Bogengängen überdeckte Gassen der Altstadt, an 14 Kreuzweg Stationen entlang bis hin zur weihrauchgeschwängerten Grabeskirche, die an jenem Ort steht, wo Jesus gekreuzigt, ins Grab gelegt und auferstanden sein soll. Nach der Überlieferung ist sie jene Straße, die zur Zeit des Todes Jesu vom Amtssitz des römischen Statthalters Pontius Pilatus zur Hinrichtungsstätte am Hügel Golgota (hebr. Ort des Schädels) führte. Auf einem Großteil der Strecke musste Jesus das Kreuz selbst tragen. Welches Kreuz tragen wir auf unseren Schultern lastend diese Woche ?

Abertausende warten in Pole Position in den Gräbern des Ölbergs auf das jüngste Gericht, ihre Auferstehung, da in den Schriften steht, dass der Messias über den Ölberg nach Jerusalem einziehen wird und im Tal unterhalb des Hügels das Jüngste Gericht halten wird. „Das ewige Leben dem, der viel von Liebe weiß zu sagen. …Ein Mensch der Liebe kann nur auferstehen !..aus dem Gedicht Herbst von Else Lasker-Schüler, die auch am Ölberg begraben ist. Auch wenn ich während meines Aufenthaltes in dieser Stadt kein Jerusalem-Syndrom (psychische Störung mit religiösen Wahnvorstellungen von der jährlich etwa 100 Besucher betroffen sind) bekam und mich nicht in weite Gewänder der damaligen Zeit hüllte, war ich doch von der Aura dieses Ortes stark wie selten beeindruckt.

Wenn ich nicht auf Reisen bin faste ich schon seit Jahren ganz traditionell in der Karwoche. Es ist immer wieder ein transitorischer Moment, ein Reinigungsritual und mir noch nie so leicht gefallen wie in diesen eigenartigen und intensiven Tagen, wo ich, ausser auf weniger Essen und Alkohol trinken, ohne Angst etwas im Aussen zu versäumen auf nichts verzichten muss. Kollektive Auszeit – alles steht still, ich habe mindestens zwei Meter Abstand zu allen um mich herum. Restaurants, die genussvolle Speisen anbieten sind geschlossen, an meine Lieblingsorte kann ich nicht reisen, diese Liste liesse sich noch lange fortsetzen. Also was bleibt: Fasten – für diese Woche vielleicht auch von Covid-19 News ? „Heute keine Todeszahlen vorm Frühstück. Erst Tee, dann Bach, dann beides. Und dann ein Spaziergang“ – nein, nicht so wie in diesem Zitat aus den persönlich-politischen Notizen zur Corona Krise von Carolin Ecke, sondern ganz schlicht, einfach und karg: Fasten. Ich werde einen Selbstversuch starten in dieser stillen Woche vor dem Ostervollmond.

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