15°46′46″ südlicher Breite; 47°55′46″ westlicher Länge
Gestern hat die 1960 als architektonische Utopie geplante brasilianische Hauptstadt ihren 60. Geburtstag gefeiert. Wegen der C-Pandemie ganz still und ohne Gäste.
Im April 2015 konnte ich bei einem sternenklaren Nachtflug, von Belo Horizonte nach Brasilia, sehen wie von oben das Grundraster der Stadt als Lichtermeer in Form eines Flugzeugs erscheint. Wir wurden vom Bruder einer brasilianischen Freundin am Airport abgeholt und fuhren zur angeblich best pizza in town, noch besser war jedoch das eisgekühlte Bohemian Cerveja. Frisch gestärkt machten wir uns zu einer late night Stadtrundfahrt auf. Ich spürte augenblicklich Melancholie über das Ende einer Vision: Die Moderne. Superblocks reihen sich entlang der Hauptachse wie Passagiersitze in einem Flugzeug. Kirchen, Regierungsbauten – monumentale Gebäude in einer archaischen Weite, skulptural und irgendwie römisch.
Das Schreien der Krähen in der tropischen Nacht, dieser von einer trockenen Marslandschaft umgebenen künstlichen Stadt mit See, erzeugt in mir eher das Gefühl in the middle of nowhere zu sein, als im Zentrum von Brasilien.
1891 wurde beschlossen eine neue Hauptstadt für dieses Land zu bauen. Anlass war der Wunsch nach einer neutralen föderalen Hauptstadt sowie einer vor Invasionen geschützten Lage im Landesinneren. 1893 wurde ein 14.400 qkm großes Gebiet für die künftige Hauptstadt abgegrenzt. 1922 fand die Grundsteinlegung für Brasília statt. Die Bauzeit begann 1956. Bereits am 21. April 1960 war die Stadt weitgehend fertiggestellt und wurde vom damaligen Präsident Kubitschek eingeweiht. Brasília löste Rio de Janeiro als neue Hauptstadt des Landes ab. Hauptverantwortlich für das Projekt Brasilia war der Architekt Oscar Niemeyer. Er entwarf die öffentlichen Gebäude. Lucio Costa war sein ausführender Stadtplaner. Er hat den Grundriss der Stadt in Form eines Kreuzes „der elementaren Geste der Besitzergreifung eines Ortes: zwei Achsen. die sich rechtwinkelig überschneiden“ mit gebogenen Achsen entworfen. In der „Monumental-Achse“ stehen die Regierungsbauten und in der Verkehrs- und Wohn-Achse die „Superquadras“. Dort, wo sich die beiden Achsen kreuzen, wurden Busbahnhöfe, Einzelhandel, Banken angesiedelt. Die Stadt ist in vier Bereiche: Wohnen, Arbeiten, Kultur und Sport, gemäß der „Charta von Athen“ einer Richtschnur für Stadtplaner der damaligen Zeit, eingeteilt.
Am nächsten Morgen nehme ich bei strahlendem Sonnenschein an einer Guided Tour zu den Ikonen dieser faszinierenden, wie umstrittenen Stadt, die architektonisch besonders von den Parlamentsgebäuden und der Kathedrale geprägt ist, teil.
Der Nationalpalast, mit seinen in Fluss geratenen Säulen, die seine Frontfassade rhythmisch gliedern und in ihrer Spiegelung im Wasser auflösen, scheint gleichzeitig zu schweben und zu schwimmen.
Vom Inneren des futuristischen Kongressgebäudes aus, wird das grösste Land Südamerikas regiert.
Die zeltförmige hyperbolische Kathedrale ist von einem Bergkristall gekrönt. In der Kirche gehe ich entlang einer Spirale bis in die Mitte. Ich „reinige“ mich und spüre die Kraft des Kristalls bis in die Fingerspitzen, ein elevierender Moment: Beam me up, Oscar…
Mit der Abenddämmerung endete der erste Tag des Aufenthaltes in diesem urbanen Nukleus. Ich erinnerte mich an den ersten Ausstellungsbesuch mit meinem jetzigen Mann vor vielen Jahren. Damals erklärte er mir sachkundig die Besonderheiten dieses brasilianischen Architekten. Ich verliebte mich in die Architektur Niemeyers und in den sein Werk erläuternden Architekten…
Architektur beseelt laufen wir Rampen hinab, die sich oft an Niemeyers Gebäuden finden. Sie erweitern die strenge Orthogonalität moderner Architektur um Kreis und Kurve. In seiner futuristischen und plastischen Formensprache der kurvenreichen, weichen Konturen entsteht ein ausgewogenes Verhältnis zwischen freiem Raum und Volumen.
Die Kurven in Niemeyers Werk erinnern an die Rundungen weiblicher Sinnlichkeit und sind eine Nachbildung organischer und biologischer geschwungener Formen, in Landschaft gegossene Frauen.
Durch die Form seiner „tropischen Erotik“ dekonstruierte Oscar Niemeyer die Sprache der funktionalen Architektur der Moderne. Machado sagt über Brasilia: „Es war die wichtigste urbanistische Entwicklung des 20. Jahrhunderts.“ Niemeyer ist ein Fetischist der geschwungenen Linie gewesen, vielleicht eher ein Nachfahre der gestalterischen Dynamik des Barock als ein Vertreter der klassischen Moderne. In seiner Balanço confidencial („Vertraulichen Bilanz“), klagte er eine internationale Architektur an, die ihren sozialen Idealismus und ihre gestalterische Freiheit verloren habe. Er schlug vor, „eine Architektur“ zu schaffen, „die ganz aus Traum und Phantasie, aus Kurven und großen, von überflüssigen Elementen freien Räumen besteht …“
„Nicht der rechte Winkel reizt mich,
Auch nicht die gerade, harte, unerbittliche,
Vom Menschen geschaffene Linie.
Mich reizt die freie und sinnliche Kurve,
Die Kurve, die ich an den Bergen meiner Heimat finde,
Im gewundenen Lauf ihrer Flüsse,
In den Meereswellen,
Am Körper der Lieblingsfrau.
Aus Kurven besteht das ganze Universum,
Einsteins gekrümmtes Universum.“ Gedicht von Oscar Niemeyer
Architektur als Erotik.