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aus Keiken + George Jasper Stone, Feel My Metaverse

Als Anfang Mai nicht nur die Golfplätze wieder öffneten (siehe Blog ES GRÜNT SO GRÜN…vom 12.05.2020), sondern auch die Museen, bin ich nicht hineingegangen, da die Lust auf leibliche Bewegung größer war als auf immaterielle. Doch jetzt, Monate später, schaute ich mir die Ausstellung „How to Make a Paradise“ – Sehnsucht und Abhängigkeit in generierten Welten – im Frankfurter Kunstverein an. Sie präsentiert ein breites Spektrum künstlerischer Projekte, die sich mit dem menschlichen Wunsch nach (digitalem) Eskapismus, sowie dem Drang, unsere Fähigkeiten durch den Einsatz von Technologie zu erweitern, auseinandersetzen.

Frankfurter Kunstverein mit Installation „Die große Illusion“, 2019

Der Frankfurter Kunstverein ist übrigens neben dem Steinernen Haus das einzige Gebäude innerhalb der neuen Dom-Römer Bebauung was echt „alt“ ist und sogar unter Denkmalschutz steht.

„Paradiese klingen nach Erfüllung und Sehnsucht. Nach Ferne und Schönheit, nach Dasein ohne Mühe. Zu jeder Zeit, an jedem Ort sind digitale Gadgets verfügbar. Sie versprechen uns die Ausweitung der Komfortzone. Und sie entführen uns aus dem Hier und Jetzt. Sie nehmen uns mit in Welten, deren Erscheinungsoberflächen sich unseren Wünschen anpassen lassen. Verspielt, nutzerfreundlich und mit dem Klang sanfter Stimmen helfen sie uns mühelos durch den Alltag“. Sauber, glatt und ohne das man die Elektrizität dahinter riechen kann.

Da bekomme ich fast Lust mich kurz vor dem Ausbruch der zweiten Welle, aus dem trockenen pandemischen Sommer, in eine schöne, neue, schillernde virtuelle Welt zurückzuziehen. Und mit welcher Identität und mit welchem Körper ich das tue kann ich mir aussuchen. Wie wäre es beispielsweise mit einem Brazilian Butt, der ist doch gerade so angesagt, und/oder einem blauen Facefilter für meine Avataress ?

aus Avatar – Ausbruch nach Pandora

In der Zukunft haben die Leiber ausgedient, denn ihnen könnte die 3D Erde abhanden gekommen sein. Die Menschen leben als „geistige“ Existenz in Schutzgebilden, jungen, durchdefinierten Körpern, in denen sie auf der Suche nach dem Realen phantastische Landschaften durchstreifen. „In den digitalen Ebenen spiegeln wir uns selber. Immer weiter optimieren wir unsere Skills, unser Selbst und unsere individuelle Welt. Sehnsüchtig nach Verführungen“, Berührungen „und dem Erlebnis von Nähe.., in individuellen Paradiesen. Mit einem digitalen Leib als künstlicher Manifestation unseres inszenierten Selbst bewegen wir uns durch die Matrix der digitalen Welt. Auf der Suche nach Anerkennung, nach Selbstvergewisserung im Like der Online Communities…Immer weiter optimieren wir unsere Fähigkeiten, unser Selbst und unsere Welt in der Sehnsucht auf ein irdisches Paradies…Paradiese sind ursprünglich im Jenseits, außerhalb der weltlichen Lebensrealität, in einem virtuellen Raum lokalisiert. Das Paradies gilt als ein erstrebenswerter Ort. Die Existenz ist zeitlos, es gibt keinen Tod. Es ist ein Garten oder Park. Einst wurden diese Gärten durch Göttliches gestaltet. In den letzten Jahrhunderten strebte der Mensch danach, sich die Natur mittels Technologien mehr und mehr untertan zu machen. Nach und nach verschob sich auch das Paradies aus dem Jenseits ins Diesseits. Gleichermaßen strebt der Mensch danach, die Trennung zwischen Menschlich und Göttlich aufzuheben. Das Ziel ist die Optimierung der diesseitigen Existenz statt eines Wartens auf den Eintritt ins Jenseits.“ (Mattis Kuhn, Kurator der Ausstellung) Beziehungsweise die Unsterblichkeit nicht erst nach dem Tod, sondern bereits davor zu erreichen, indem wir zu übermenschlichen Cyborgs mit erweiterten Körpern, widerstandsfähig wie ein Diamant, werden oder unser Ich mittels Mind Upload von unserem sterblichen Körper befreien. Transhumanismus. Oder muss sich der Mensch im ausgehenden Anthropzän damit anfreunden nicht mehr im Mittelpunkt zu stehen ? Back to the roots.

aus Fleuryfontaine – I would prefer not to, 2019
Video- und Rauminstallation

In der Videoinstallation „I would prefer not to“ (Lieber nicht) erstellt das Künstlerkollektiv Fleuryfontaine ein Portrait von einem jungen Mann aus Südfrankreich, der seit 13 Jahren als „Hikikomori“ lebt. Der Begriff (jap. ひきこもり, 引き籠もり bedeutet „sich einschließen; gesellschaftlicher Rückzug“ und bezeichnet Menschen, die sich freiwillig in ihrer Wohnung oder ihrem Zimmer einschließen und den Kontakt zur Gesellschaft auf ein Minimum reduzieren. Hikikomoris, meist Männer, verlassen ihr Zuhause für Monate oder Jahre nur selten oder gar nicht. So wie in den vergangenen Wochen viele Menschen weltweit, mit dem Unterschied, das es meist unfreiwillig war. Doch umso mehr Menschen sich im Metaversum eines kollektiven virtuellen gemeinsamen Raumes, einschließlich der Summe aller virtuellen Welten, erweiterten Realitäten und des Internets, aufhalten, umso mehr neuronale Vernetzungen werden in der Einsamkeit der immateriellen Melancholie entstehen. Der junge Mann aus der Installation bewohnt eine Hütte im Garten seines Elternhauses. Abgesehen von Besorgungen wie Zigaretten, verbringt er seine gesamte Zeit darin. Soziale Kontakte pflegt er über das Internet, so auch zu Fleuryfontaine. Durch eine Games Entwicklungsumgebung übersetzen sie seine reale Welt in eine computergenerierte, durch die er sich an seinen drei Rechnern bald genauso selbstverständlich bewegt wie in seinem begrenzten realen Schutzraum.

aus Fleuryfontaine – I would prefer not to, 2019
Video- und Rauminstallation

Ein zentrales Thema von „I would prefer not to“ sind Grenzen. Der virtuelle Raum der nachgebauten Welt ist durch die gestaltete Gamesumgebung in der die Welt hinter programmierten Garten und Hütte aufhört, definiert. In der Realität hat der Hikikomori seine Abgrenzung zur Außenwelt selbst gewählt.

Was ist meine (innere) Grenze – wie groß ist mein Radius, bis wohin bewege ich mich ? Gab es während des Lockdowns nicht auch Momente wo ich als Datenmönch für immer in meiner Klause bleiben wollte ? Wenn nicht das Meer gewesen wäre…Doch immersive Technologien werden zunehmend die analoge Umgebung mit virtuellen Datenräumen ersetzen und die Art und Weise verändern wie, wann und in welchen Räumen wir uns bewegen. Virtual Sea – könnte ein Cyberspace für mein Meerweh sein, so richtig echt mit kühlem Windhauch, Salzgeruch, feuchten Gischtperlen auf der Haut, Möwengeschrei.

Die Vorstellung von der Oase eines „geschlossenen“ Ortes gab es auch bereits im hortus conclusus des Paradiesgärtlein, Gemälde eines Oberrheinischen Meisters, das wahrscheinlich um 1410/1420 angefertigt wurde und seit 1921 als Dauerleihgabe im Städel zu sehen ist.

Etymologisch kommt Paradies, pairi daēza, aus der altiranischen Sprache und steht für eine eingezäunte Fläche. Verwandt ist hebräisch pardēs „ein von einem Wall umgebener Baumgarten“.

Das Gemälde zeigt eine lesende Jungfrau Maria und das Psalterium spielende Jesuskind, umgeben von mehreren Engeln und Heiligen (Avatare Gottes ?) in einem Garten mit tiefblauem Himmel. Nur eine einzelne Baumkrone, die auf der Mittelachse über der Mauer sichtbar ist, deutet auf eine räumliche Umgebung hin. Virtual Gothic. Der Garten ist voller Pflanzen, die in der obigen Abbildung alle bestimmt sind.

In meinem Paradiesgärtlein stehen Buchsbäume, duftende Rosen mit Dornen an denen ich mich verletzen kann, Lavendel, Farn u.v.m. Er ist ganz analog geerdet und muss gehegt und gegossen werden.

Muss i denn, muss I denn (aus meinem Paradiesgärtle) zum Städele hinaus ? Was ist das Narrativ für (m)eine paradiesische Lebenswelt ? Landlust ist auch ein Eskapismus.„How to Make a Paradise“ ? Wo, wann, wie und vielleicht doch nicht nur in meinem Gärtlein ?

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