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54° 57″ nördliche Breite, 8° 19″ östliche Länge

Es ist eines der traditionsreichsten Sylter Gebäude – Das schmucke, weiße Haus „Kliffende“ umgeben von Dünen, markiert das Ende des Roten Kliffes (siehe Blog 24.05.2020) und ist, da nahe der Abbruchkante gelegen, durch Sturmfluten vom Untergang bedroht. Für mich verkörpert es die Sehnsuchtstypologie freistehendes Haus mit Blick aufs Meer. 1923 wurde es vom Architekt Walther Baedeker, im Auftrag von Heinrich Tiedemann, einem in Berlin ansässigen Antiquar, entworfen. Er schenkte es 1925 seiner Ehefrau, der Schauspielerin Clara Tiedemann, die Kliffende bis 1955 als Gästehaus führte. „Diese prickelnde Luft, dieser Wind, der einem ständig in den Ohren pfeift, der schneeweiße Strand, diese ganze Pracht ohnegleichen. Kann es irgendwo schöner sein?“ So sehr viele schönere Stellen kenne ich nicht. Sie beherbergte als erste Prominentenwirtin der Insel Persönlichkeiten aller Couleur, wie u.a. Ernst Rowohlt, Emil Nolde, Thomas Mann. Er schrieb in das Gästebuch: „Nicht Glück oder Unglück – der Tiefgang des Lebens ist es, worauf es ankommt. An diesem erschütternden Meere habe ich tief gelebt…“ Ein Treffpunkt zahlreicher Künstler, Maler und Menschen aus Politik, Wirtschaft und Kultur, Sommerfrische für das geistige Deutschland: Nordseesalon.

Auf die Auswahl ihrer Gäste legte die Tiedemann größten Wert – die meisten kamen auf Empfehlung. Die Wirtin selbst gesellte sich jeden Abend an einen anderen Tisch. Dabei konnte sie ebenso reizend wie resolut sein. Wenn ihr jemand nicht passte, machte sie ihm das auch unmissverständlich klar: Dann schickte sie ihm kurzerhand die Serviererin mit dem Kursbuch der Bahn an den Tisch. Ich werde zwar morgen auch mit der Bahn die Insel wieder verlassen; aber freiwillig…

Zu Pfingsten (grch. πεντηκοστὴ ἡμέρα pentēkostē hēméra, deutsch ‚fünfzigster Tag‘,(nach Ostern)) ikonographisch auch Ausgießung des heiligen Geistes genannt, kam dieser zwar nicht über mich, aber meine Tochter aus der Schweiz spontan zu Besuch. Und wenn ich so überlege hatte ich mit einem „Heiligen Geist“ doch irgendwie Kontakt, als ich am Pfingstsonntag an einer Special Meditation via YouTube Schaltung live aus dem Atmasantulana Temple in Indien teilnahm: Aummhh, Aummhh…der kosmische Ursound, wie das Rauschen des Meeres, Wellen die kommen und gehen…ein und aus…im ewigen Rhythmus der Natur.

Mit der Tochter lief ich durch Heide und Dünen den Kampener Kunst- und Kulturpfad, an dem bekannte Künstler geehrt werden, entlang, jeder Abschnitt des Strandes voller Erinnerungen an sommerliche Kindertage. Heute reden wir über das Verschwinden des Sandes im Anthropozän, die Erdoberfläche als Critical Zone.

Um einen Totalverlust des Anwesens nach den Sturmfluten im Winter 1990, wo Kliffende weniger als 5,5 Meter von der Abbruchkante entfernt lag, zu verhindern, wurden noch im gleichen Jahr zehn Lagen geotextiler Sandcontainer auf über 160 Meter Küstenlänge vor dem Haus verbaut. „Aufgabe der dadurch geschaffenen künstlichen Düne ist es, ein weiteres Abbrechen des Kliffs zu verhindern und vor dem Haus eine zweite Verteidigungslinie aufzubauen, sobald das Sanddepot aus den Vorspülungen durch hydrodynamische Belastungen aufgezehrt worden ist.“ Das Bauwerk, welches heute im privaten Besitz Schweizer Investoren ist, und noch wertvolleres Betongold darstellt als die Anwesen auf dem Züriberg, hat heftigen Stürmen mit Windgeschwindigkeiten von bis zu 200 km/h standgehalten. Im Verlauf dieser Sturmfluten wurde das geotextile Bauwerk ab und an ein wenig freigespült, aber immer zeitnah durch Bagger wieder mit Sand abgedeckt. Auch aufgrund des angepflanzten Strandhafers ist die Düne mittlerweile erheblich angewachsen. Aber es bleibt ein Haus am Abgrund, früher oder später wird es sich das Meer nehmen.

Doch nicht nur das Kliff ist hier zu Ende, auch meine erste Reise nach dem Lockdown – gemäß Rilkes Plädoyer: Ich glaube, wir brauchen (trotzdem Italien sein Wohltun hat) doch bald wieder Norden, Weite, Wind!…Relax. Read. Sleep. Repeat.

Cliffhanger: Venedig, mit der Inselgruppe Guidecca, wo heute noch viele Künstler leben, kommt demnächst dran. Die Serenissima ist wie Sylt auch über einen Damm mit dem Festland verbunden. Eine Freundin sagte mal zu mir, dass ich einen Hang zu Orten auf sumpfig-feuchtem, unsicherem Grund hätte…Hydrophilic Experiences.

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