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54°83′ nördliche Breite, 8°88′ östliche Länge

Auf dem Rückweg von der Nordsee habe ich mir endlich mal das von Emil Nolde entworfene Wohn- und Atelierhaus „Seebüll“ angeschaut. Es ist eines der herausragenden Künstlerhäuser der Modeme. Mit seinen gradlinigen Formen erinnert es an die Bauhaus-Architektur der 1920er-Jahre. Nolde hat den architektonischen Kontrast zu den reetgedeckten Friesenhöfen der Umgebung bewusst gewählt: Der Rotklinkerbau mit schmalen Fenstern und Flachdach steht auf einer Warft und erhebt sich selbstbewusst aus der Weite des flachen, nordfriesischen Marschland. 

Er beginnt den Bau 1927 mit seinem Atelier, das er Werkstatt nennt. Der eingeschossige Flachbau wird mit dem zweigeschossigen Wohnhaus verbunden. 1937 setzt Nolde noch einen privaten Ausstellungssaal auf seine Werkstatt.

Es wäre vielleicht nahegelegen den Raum in fröhlicher Weise mit Musik und Tanz, mit Gelage und Reden einzuweihen. Ich konnte dies nicht. Eine Stätte der Arbeit sollte es sein, eine ernste Stätte der Pflicht, die nicht leichtfertig entweiht werden durfte.“ Emil Nolde

Das sehe ich, wie so vieles bei Nolde, durchaus anders – ein rauschendes Künstlerfest hätte das Atelier nicht ent-, sondern stilvoll ein-geweiht.

Gleich einem Märchen war die Heimat mir“, schreibt er. Der fast sechzigjährige war auf dem Höhepunkt seines Ruhms, als er sein neues Zuhause dicht an der Scholle in Sichtweite des väterlichen Bauernhofes fand: „Hier ist unser Platz!“. Neue alte Heimat.

Haus Seebüll mit Heudiemen, Aquarell

Der Ausblick in die weite Landschaft als Einblick – die Poesie des Raumes. Noldes Wunsch nach Verbindung von innen und außen folgend werden Leben, Werk und Landschaft zu einer Einheit.

Die Anordnung der farbig gestalteten Wohn(t)räume folgt dem Lauf der Sonne: Im Osten liegt das blaue Schlafzimmer, im Süden das karminrote Esszimmer. Abendliche Sonnenstrahlen leuchten in die nahezu intime, noch original möblierte, Lebenswelt des sonnengelben Wohnzimmer.

Einige Möbelstücke sind nach Noldes Entwürfen ausgeführt, Textilien webte Ada nach Zeichnungen ihres Mannes. Die Wände leuchten in einer Farbigkeit, die das intensive Kolorit seiner Kunstwerke aufgreift. Gemeinsam gestaltete das Ehepaar ihr „Zauberheim“.

Kunst, Architektur, Innenausstattung und Blumengarten bilden in Seebüll eine Einheit, ein Gesamtkunstwerk wie Giverny von Monet.

https://topophilia.world/les-nympheas-monets-malerischer-garten-in-giverny/

Die Farbigkeit des Gartenhaus sowie die des Innern des Wohnhauses korrespondiert mit den kräftigen Farben der Gartenpflanzen. Ein Fest der Farbe!

Weihnachten 1875 bekam Klein Emil seinen ersten Malkasten geschenkt. Nun musste er sich nicht mehr mit Farben aus Rote-Bete- und Holunderbeerensaft behelfen.

Nolde war Autodidakt. Im familiär bäuerlichen Umfeld gab es, ausser seiner sensiblen Mutter, die sich mit Liebe ihrem Blumengarten widmete, keinerlei künstlerischen Ambitionen. Sein Vater versuchte ihn daran zu hindern Künstler zu werden und ließ ihn mit 16 ein Jahr lang auf dem elterlichen Hof in der Landwirtschaft arbeiten. Das ging nicht gut – Vater und Sohn finden einen Kompromiss: Emil darf sich in einem künstlerischen Handwerk ausbilden lassen –

und wurde Maler…

Mehr Licht! Nolde malte am liebsten en plein air – direkt mit der Staffelei in seinem Gartenparadies zwischen den Blumen stehend.

Seine Anfänge waren noch behutsam. Die im Impressionismus wurzelnden Bilder zeigten Blumen, Gartenstücke, Landschaften, das Meer. Signature Motive, hundertfach wiederholt, doch im Laufe der Jahre werden die Farben immer intensiver, greller, glühender.

Die tiefliegenden Horizonte und Wolkenberge seiner Heimat im deutsch-dänischen Grenzgebiet immer dramatischer, die Meere aufgewühlter. Nordseemaler.

Seebüll mit Wolkenhimmel, Aquarell

Doch auch jenseits dieser sammelte er auf seinen vielen Reisen neue Eindrücke, die sich in seinem Werk widerspiegeln. In den Jahren 1903 und 1904 unternehmen er und Ada eine Reise nach Ostasien. Die beeindruckende Farbenpracht der exotischen Landschaften hinterlässt Spuren im Werk des Künstlers.

Auch wenn Seebüll sein „Urboden“ war, ist Noldes Leben geprägt durch einen ständigen Wechsel von Welt und Heimat. Die Hälfte des Jahres verbringt er in Deutschland, die andere Zeit ist er auf der Suche nach neuen Erfahrungen in ganz Europa oder auf der legendären Südseereise in die weit entfernten „deutschen Schutzgebiete“ Deutsch-Neuguinea u.a. über Moskau, Sibirien, Korea, China und Japan, wohin mich meine nächste Reise führen wird. Wäre diese 50% Aufteilung Heimat/Welt nicht auch ein passendes Modell für mich?

Im von ihrer Südseereise inspirierten Gartenhaus „Seebüllchen“ genossen sie viele Stunden in trauter Zweisamkeit. Nolde malte dort auch gerne, denn hier konnte er selbst bei windigem Wetter gut aquarellieren. Dies tat der als „entarteter Künstler“ verfemte ab 1941 immer öfter, so entstanden heimlich unzählige kleinformatige Aquarelle, die erst nachträglich zur Werkgruppe der „Ungemalten Bilder“ zusammengefasst wurden. Statt „Gottbegnadeten-Liste“ bekam er Berufsverbot und blieb dennoch unverständlicherweiser Anhänger des Nationalsozialismus, Rassist, Antisemit. Ein „entarteter“ Entarteter.

Wie Werk und Künstler trennen?

Der Garten nahm die zeitgenössische Reformbewegung auf, die sich gegen industriell genormte Kunstformen richtete. So entstand in der weiten Marschlandschaft ein individueller, heimatbezogener Bauerngarten.

Dessen Wege verlaufen in Form der Initialen A & E, Ada und Emil, mit einem kleinen Wasser wie ein Schmuck dazwischen, die Buchstaben verbindend.

Alpha und Omega; Ende und Anfang – Ada stirbt 1946. Sie scheint Noldes große Liebe gewesen zu sein, was ihn jedoch im stolzen Alter von 81 nicht davon abhielt die 26-jährige Jolanthe Erdmann, Tochter eines befreundeten Musikers, zu heiraten. Männer!!!

Zehn Jahre später am 13. April 1956 stirbt der Maler in Seebüll und findet seine Ruhestatt in der Gruft neben Ada. Diesen gemeinsamen ewig langen Schlaf hat Ada Jolanthe voraus, den letzten (Bei)Schlaf ihr jedoch Jolanthe…

Noldes Geist lebt weiter im Genius loci von Seebüll, dem Sitz der Stiftung Ada und Emil Nolde, zu welcher auch der in unmittelbarer Nähe gelegene, reetgedeckte Hülltoft Vierkanthof gehört, der ihn zu vielen Aquarellen inspirierte.

Der Maler der Elemente hat von 1895 bis 1951 1.356 Gemälde geschaffen, seine unzähligen Aquarelle nicht mitgezählt. Er wechselte zwischen Rückgriffen auf bewährte Techniken sowie Motive und Vorgriffe auf radikal neue Bildauffassungen mit expressivstem Pinselstrich – ein Alter Wilder.

Ausschnitt aus Wald-Pigmentierungen, Refik Anadol, 2021

Wie hätten Nolde diese Datenskulpturen voller überraschender Effekte und fließender Formen gefallen? Zumindest dem leuchtenden Farbrausch wäre er wohl erlegen.

Aus über 300 Millionen Naturphotographien trainierte das Studio des türkischen Künstlers Anadols einen Algorithmus. Das Ergebnis sind Computer generierte Pigmente, Formen und Muster, die wir noch immer mit Natur assoziieren. Jede Variation bietet eine traumähnliche immersive Interpretation und Reflexion der Beziehungen zwischen Mensch, Technologie und Natur. Daten sind sein Farbstoff.

Anadol gilt als Pionier einer Ästhetik der maschinellen Intelligenz. Für mich sind seine Bilder post-impressionistischer Pointilismus in Bewegung. (KI) Kunst lernt Laufen…

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