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53°25′ nördliche Breite, 9°95′ Länge

Der Israelitische Tempel ist ein Hidden Place in meiner (deutschen) Lieblingsstadt Hamburg. Er wurde 1844 vom liberalen Neuen Israelitischen Tempel-Verein gegründet und war eine der ersten Reformsynagogen der Welt. Die Fassade des Eingangs wurde von zwei achteckigen Türmen nach der Art von Minaretten flankiert und nahm sowohl maurische als auch neogotische Elemente auf. Auf dem Portal stand auf hebräisch „Gesegnet, der da kommt im Namen des Ewigen.“

Einladungskarte zur Einweihung 1844

Geblieben sind nur noch Überreste – verfallene Ruinen inmitten von Autowerkstätten: Caspar David Friedrich im Gängeviertel. Bis vor einem Jahrhundert erstreckte es sich vom Hauptbahnhof zum Hafen – ein labyrinthartiges Gewirr aus Gassen und Gängen zwischen baufälligen Fachwerkhäüsern. In den Gängen wohnten die städtischen Under Dogs, zu denen im 18. und 19. Jh. hier auch viele Juden gehörten. Heute ist das Ensemble Poolstraße 11, 12, 13, 14 mit den Resten der ehemaligen Hinterhofsynagoge denkmalgeschützt und bei Stadtführungen einer der Geheimen Orte.

Unter Denkmalschutz könnte auch dieser kleine seegrüne italienische Flitzer in der Westportal-Ruine, mit dem ich an diesem verregneten Novembertag am liebsten gleich über die Alpen gen Italien fahren würde, stehen.

Von dem ehemaligen Gotteshaus sind nur noch die Reste der westlichen Vorhalle und die östliche Apsis als unverbundene Kriegsruinen erhalten, das 40m × 23m große Hauptschiff, ein einzigartiges Zeugnis deutsch-jüdischer Geschichte, ist 1944 bei einem Luftangriff nahezu vollständig zerstört worden. Es gibt nur noch Eingang und Ausgang, Alpha und Omega – eine leere Mitte ohne Zwischenzeit. Aus der Zeit gefallen.

Die Gründerväter des Tempelvereins traten für eine Annäherung an die Christen ein, in dem sie den jüdischen Kultus reformierten. „So nannten sie ihr Gotteshaus nicht mehr „Synagoge“ sondern „Tempel“ und gepredigt wurde nicht mehr auf hebräisch sondern auf deutsch. Frauen und Männer saßen während des Gottesdienstes zwar noch getrennt, doch gab es keine Gitter zur Abtrennung mehr und beide Geschlechter benutzten den selben Eingang, für die Begleitung der Choräle gab es die einzige Orgel in einem jüdischen Gotteshaus in Hamburg.“ (Wikipedia)

Einweihung des reformierten Tempels in der Poolstraße 1844, Photo Heinrich Jessen

Es heißt das Felix Mendelsohn für die Einweihung des Tempels das Chorstück Der 100. Psalm ( Jauchzet dem Herrn, alle Welt) komponiert habe, dieser wurde bei der Eröffnungsfeier während des Toraeinzugs vermutlich jedoch auf Hebräisch gesungen.

Die Seiteneingänge zur Apsis sind zugemauert. Vor dem ehemaligen Zugang zum Allerheiligsten steht ein verschrottetes schwarzes Auto umringt von abgenutzten Reifenbergen. Eine morbide Tristesse umgibt den Hof an diesem Black Friday.

Doch trotz allem Verfall spüre ich das Gute dieses Ortes, das Verbindende und die daraus resultierende Versöhnung, Schwingungen von weltoffener Toleranz und gebildeter Geistigkeit, wie es Birgit Gräfin Tyszkiewicz, Designerin von Roma e Toska, bei unserem pre-Christmas season Lunch beschrieb.

ROMA e TOSKA in der Poolstraße 12

Sie präsentiert an diesem magischen Ort in der ehemaligen unvergitterten Tempel Frauenempore, die einen Blickkontakt mit den Männern ermöglichte, seit einigen Wochen ihre modischen Editionen in Verbindung mit Bildern, Objekten und Accessoires. Bohemien pur ! Ich erstand ein Lieblingsteil, welches mir vielleicht auch den ein oder anderen Blickkontakt mit Männern (oder auch Frauen, Diversen etc.) ermöglicht.

Photo: Birgit Gräfin Tyszkiewicz

Der Tempelverein zählte bei seiner Gründung 800 Mitglieder, was damals 10% der Hamburger Juden entsprach. Ihr Glaubensverständnis unterschied sich gegenüber den orthodoxen Juden, in deren Selbstverständnis als vertriebenes Volk die Rückkehr ins Heilige Land und der Wiederaufbau des Tempels in Jerusalem nach der Ankunft des Messias im Fokus stand und nicht eine mögliche „Erleuchtung“ in der Hamburger Neustadt. Predigt Salomons von 1825 „Dies ist die Mitte unseres Neuen Jerusalems“.


Für die Anhänger des reformierten Judentums war ihr 1844 in der Poolstraße eingeweihte Neue Tempel (der erste von 1817 war zu klein geworden) somit Abbild des Tempels in Jerusalem.

Der von seinem reformorientierten Onkel aus Hamburg unterstützte Dichter Heinrich Heine charakterisierte die Hamburger Situation Ende 1843 – also kurz vor der Fertigstellung des Poolstraßentempels – folgendermaßen: „Die Juden teilen sich wieder ein
In zwei verschiedne Parteien;
Die Alten gehn in die Synagog’,
Und in den Tempel die Neuen.
Die Neuen essen Schweinefleisch,
Zeigen sich widersetzig,
Sind Demokraten; die Alten sind
Vielmehr aristokrätzig.
Ich liebe die Alten, ich liebe die Neu’n -…“

Ungeachtet ihrer Annäherung an die Gesellschaft hatten die reformierten Juden weiterhin eine schlechtere Rechtsstellung. Erst 1860 wurden mit der neuen Hamburger Verfassung die bürgerlichen Rechte und das Religionsbekenntnis getrennt und die Glaubens- und Gewissensfreiheit gewährleistet. In der Hamburger Franzosenzeit bildete sich die an der Haskalah, (hebräisch השכלה „Bildung“, „Philosophie“ ) auch als jüdische Aufklärung bezeichnete, orientierte Reformbewegung, die eine religiöse Erneuerung hervorrief, die bis heute, vor allem in Nordamerika, fortbesteht. Sie beruhte auf den Ideen der europäischen Aufklärung und trat für Toleranz und Gleichberechtigung der Juden in den europäischen Gesellschaften ein.


Bis Mitte des 19. Jh gab es eine Siedlungskonzentration der jüdischen Bevölkerung in der Hamburger Neustadt, resultierend aus der schlechten wirtschaftlichen Lage der meisten Juden, dem Verbot Grund und Boden zu erwerben, Verordnungen über das Wohnrecht und das Bedürfnis möglichst nahe am Tempel zu leben. Mit der beginnenden Gleichstellung verbesserten sich die Lebensbedingungen und viele zogen aus der dichtbesiedelten Neustadt in andere Stadtteile, wo auch der Tempelverband einen neuen in der Oberstraße gebaut hat. 1931 fand im Tempel der Poolstraße der letzte Gottesdienst statt.

„Spurensuche“ von Arne Kübitz, 2003

Der Künstler Kübitz erinnerte an ihn mit „Spurensuche“ – einem Objekt aus Teilen alter Schreibmaschinen, welches die Frontansicht des alten Tempelgebäudes zeigt.

Neben all diesen historischen Rückblicken möchte ich den heutigen ersten Advent nicht unerwähnt lassen und mit ihm die Verbindung von Weihnachten und Chanukka. Zwei Winterfeste mit Gemeinsamkeiten und Unterschieden. So wie gegenwärtig viele Menschen auf der ganzen Welt die Bräuche der Weihnachtszeit übernehmen ohne das diese etwas mit der eigenen Religion zu tun hätten, so praktizierten dies im 19. Jh auch jüdische Familien. Zumal in der Biedermeierzeit sich das Weihnachtsfest von seinen christlichen Wurzeln entfernte und zum beschaulichen Familienfest mit Tannenbaum und Geschenken wurde und damit auch für die der mosaischen Religion etwas entfremdeten, aber mit der deutschen Kultur verbundenen säkulären Juden attraktiv. Chanukka ist ein Fest, das an die Befreiung des Tempels in Jerusalem erinnert. Im Zentrum des Lichterfestes, steht das so genannte Ölwunder. Im Tempel zu Jerusalem brannte nach der Befreiung ein kleiner, winziger Ölrest, der eigentlich nur einen Tag hätte brennen können, wundersamerweise für acht Tage, weswegen der Chanukka-Leuchter acht Arme hat. Aus der Balance zwischen Bewahrung der tradierten Kultur und Teilhabe an der Mehrheitsgesellschaft war“Weihnukka“ geboren, ein jüdisches Weihnachtsfest, an dem „Treidel“ (Spielzeugkreisel) am Tannenbaum hängen und es statt Lebkuchen in Öl frittierte Latkes zu essen gibt.

Besonders ausgeprägt und kommerzialisiert ist diese Vermischung seit Ende des Zweiten Weltkrieges in Amerika wo sich Weihnachtsmänner und Rabbis in der Werbung die Hand reichen.

The Night before Hanukkah‘ – Zeichnung für die Titelseite des Magazins ‚New Yorker‘

Advent, Chanukka und auch Diwali das indische Lichterfest: Die erste Kerze verbindet – „Heute zünden wir die erste Kerze an.“ Das sagen Christen beim Anzünden des Adventskranzes und Juden beim Chanukka-Leuchter. Beide stellen im dunklen Dezember das Licht in den Mittelpunkt. Das Ritual des Adventkranzes entstand übrigens vor rund 180 Jahren, im protestantischen Norddeutschland ganz in der Nähe von Hamburg, um Kinder auf das Weihnachtsfest und damit die Ankunft von Jesus Christus vorzubereiten. Jeden Sonntag wird eine Kerze mehr angezündet. Der runde Kranz steht für das Leben und die grünen Tannenzweige für die Hoffnung. Auch bei Juden kommt an jedem Abend des achttägigen Chanukka Festes eine Kerze dazu.

Noch ein Lichterfest wurde kürzlich gefeiert – Diwali, was besonders in Indien große Bedeutung hat. Am Ende mehrtägiger Rituale werden am „Neujahrstag“ unzählige Lichter zu Ehren der Götter angezündet und wie vor Weihnachten die Häuser mit Lichterketten geschmückt. Doch eigentlich geht es darum Energie hinauf zum Scheitelpunkt zu bringen, das Gehirn zu „erleuchten“ und das Herz „brennen“ zu lassen. In diesem Sinne kann man auch die Adventszeit als Vorbereitung auf die „Erleuchtung“ an Weihnachten verstehen, ein Fest des Lichtes und der Entwicklung unserer menschlichen und kosmischen Energie. Happy Weihdiwanukka !

Advent, Advent, – ein Lichtlein brennt. Ich habe meine erste Kerze heute schon angezündet. Für die weihnachtliche Stimmung fehlt nur noch etwas Schnee. Bis dieser auch im Flachland fällt, lausche ich den Klängen von „White Christmas„, der Weihnachtsschlager überhaupt, komponiert von Irving Berlin, einem orthodoxen Juden aus New York.

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