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50°11′ nördliche Breite, 8°68′ östliche Länge – 45°43′ nördliche Breite, 12°33′ östliche Länge

Sprengung AfE-Turm, 2014

„Frankfurt, ewige Baustelle: Das traf im 19. Jahrhundert genauso zu wie heute. Damals veränderte sich das Stadtbild in einer zuvor unbekannten Geschwindigkeit. Mit der industriellen Revolution wuchs die Stadtbevölkerung und mit ihr die Stadt. Die Bauspekulation und der Durchbruch von Verkehrsadern und Eisenbahntrassen prägten den Städtebau“. Oft verschwanden ganze Wohnviertel…“nun aber stürmt die Neuzeit erbarmungslos mit ihrer Speculationswhut und ihrem vermehrtem Raumbedürfniß darauf ein.“

So Carl Theodor Reiffenstein, der diese Entwicklung in seiner „Sammlung Frankfurter Ansichten“ in Bildern und Beschreibungen dokumentierte – bis zum 12.03.23 noch zu sehen im Historischen Museum Frankfurt. Geht geschwind hin – sonst verschwindet alles…im Archiv.

Er hielt die von Abrissen bedrohten Ensembles nicht als Fotograf, sondern als obsessiver Maler und Historiker fest. Zwischen 1836 – 1893 schuf er 2.000 Zeichnungen und Aquarelle, 2.500 Seiten handschriftlicher Notizen.

Seine Sammlung sollte eine historische Quelle für spätere Generationen sein. Dabei ging es ihm nicht nur um bedeutende Kunstdenkmäler, sondern auch um die gewöhnlichen Häuser, Hinterhöfe, Treppenhäuser, Tordurchgänge – um Zwischenbereiche die die Stadt strukturieren, Übergänge zwischen zwei Räumen, oft auch bauhistorisch interessant: ein Renaissance-Portal, ein gotischer Spitzbogen, ein mittelalterlicher Treppenturm, Straßen und Höfe, privat und öffentlich, Innen und Außen.

Er entwarf eine „Psychogeographie“ – einen persönlichen sozialen Erinnerungsraum in dem die Stadt in direktem Bezug zu den (un)bewussten Gefühlen und Verhalten der BewohnerInnen wahrgenommen wird.

Die meisten der Orte, wie oben die Gasse zu einer Mainpforte oder unten die parkartige Seufzerallee am Oede(r) Weg, haben sich bis zur völligen Unkenntlichkeit verwandelt – sind wie Reiffenstein befürchtete, für immer verschwunden…seufz!

„Das von Melancholie durchtränkte Verlustgefühl und der Wunsch, das alte Frankfurt zu bewahren, waren die Triebfedern für Reiffensteins Schaffen. Er begab sich an alle Orte, an denen Bauwerke vom Abriss bedroht waren und hielt sie als Ganzes oder in Details fest, bevor sie verschwanden“.

Damit legte er den Grundstein für die romantisierende Verklärung vorindustrieller baulich enger Altstädte, die mit fortschreitender Modernisierung an Popularität gewannen und heute als fiktionale Medieval Fake Towns wieder aufgebaut werden…wie jüngst die Frankfurter Neue „Altstadt“ (erbaut 2012-2018).

Reiffenstein verehrte den großen Dichter Goethe (wie fast jeder Frankfurter); beide wuchsen an denselben Orten der Altstadt auf. In einem der Aquarelle ließ er seinen Blick aus den oberen Fenstern Goethes Geburtshauses über die Gärten hinter dem Großen Hirschgraben bis zu den Stadttoren schweifen.

Ich verlasse die Frankfurter Stadttore und begebe mich auf Goethes Spuren gen Süden auf die „Italienische Reise“. Zunächst überquere ich ganz klassisch am Brennerpass – dem Tor zum Süden – die Alpen.

Nicht nur Städte verschwinden, auch der Schnee in den Bergen und mit ihm der alpine Wintersport. Eine versinkende Welt.

Etwas Schnee von gestern…liegt glücklicherweise noch im Haute Engadine – wo ich Zwischenstation mache und nostalgischen Winterzauber in Sils Maria erleben darf. Kalte Eiswindluft und hochstimmende Gipfelsonne inklusive. Again Engadin.

Pirouetten auf dem fast zugefrorenen Silser See drehen; etwas wovon der Einbeinige vorne links im Bild nur träumen kann – wie wir von zukünftigen weißen Wintern.

Eine Stadt mit der wir Verschwinden mehr assoziieren als mit Frankfurt ist meine zweite Heimat Venedig – die ewig Sterbende, dem Untergang geweihte, im Meer (jedes Jahr etwas mehr) versinkende Serenissima – in die ich auch dieses Jahr zum Carnevale di Venezia komme.

Eröffnet wird er offiziell nach jahrhundertealter Tradition mit dem „Volo dell’Angelo“ – über den Piazza San Marco. 2023 fand kein Engelsflug statt – aufgrund zu vieler Baustellen auf dem Markusplatz. Die werden allerdings ganz in Reiffensteins Sinne für die Zukunft bewahren und nicht zerstören.

Schon beim Anblick des Canal Grande mit der Salute, welchen ich bei meiner Ankunft wie einst Reiffenstein bewundere – so viel Schönheit, so viel Geschichte, so viel Melancholie!

In der Carnevalszeit ist die Schwermut etwas ferner, die Gassen voller. Doch irgendwo finde ich abseits des prächtigen Piazza San Marco immer einen stillen Platz. Spiegelungen im Wasser, Licht- und Schattenspiel auf Fassaden, überraschende Aus- und Durchblicke – auch in Venedig hielt Reiffenstein verwunschene Momente mit malerischen Details liebevoll fest.

Tagsüber glitzert das Wasser der Lagune im warmsanften Vorfrühlingslicht.

Abends leuchten die Fenster der Palazzi, glamouröse Maskenbälle werden zelebriert…

Ich feierte im Palazzo Ca`Sagredo – einer meiner Top Five Palazzi!

Photography strictly forbidden.

Deswegen leider nur ein dokumentarisches Selfie am Ende einer durchtanzten Nacht aus dem Motorscafi nachhause.

Nach Guidecca – wo nachts die rosafarbenen Gaslaternen durch die Nebel flimmern.

„Man lebt nicht mehr so viel auf der Straße und wird sich dadurch fremder“ Reiffenstein 1866

Vielleicht bin ich so gerne in Venedig, weil ich mir dort näher bin, mehr auf der „Straße“ lebe, das Gefühl habe direkt im Herzen aller Schönheit zu sein.

Alles verschwindet…

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