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45°43′ nördliche Breite, 12°33′ östliche Länge

Wir besuchten eine Synagoge – mein Mann setzte eine Kippa auf (ist eigentlich kein großes Ding, aktuell aber vielleicht doch?), wie es die religiöse Tradition allen Männer die eine Synagoge betreten vorschreibt: „Bedecke dein Haupt, so dass der Segen Gottes auf dir ruht“ (Talmud). Wir sind Juden! Nachdem wir (die Deutschen) schon Papst, Weltmeister, Charlie…waren – warum nicht Juden?

Das kleine Tor auf Photo unten war Ein- und Ausgang zum Ghetto di Venezia. Es wurde jeden Abend abgeschlossen und über Nacht bewacht, die Kosten für die Bewachung hatten die Bewohner zu tragen. Nur die angesehenen jüdischen Ärzte durften unter Angabe des Patientenname das Ghetto nachts verlassen.

Ghetto kommt von „giotto“ oder „geto„, Gießerei. Da das erste jüdische Viertel in Venedig in der Nähe einer Kanonengießerei war, stand erstmalig 1414 in einer Akte dafür der Ausdruck: Ghetto. Ende des 16. Jh. hatte er sich für abgeschlossene jüdische Wohngebiete in italienischen Städten durchgesetzt und von da aus über ganz Europa verbreitet.

Sei es befohlen, dass alle Juden, die jetzt in verschiedenen Vierteln unserer Stadt leben, und all die, die von auswärts kommen, bis auf weitere Überlegung, in die abgesonderten Häuser des Gettos, das die Kapazitäten dafür hat, gehen und alle zusammen leben müssen. Diese Anordnung ist unverzüglich auszuführen. Es sei ihnen nicht gestattet, irgendwo anders zu wohnen, als in dem genannten Bezirk; so, dass sie nachts nicht umher ziehen.“ lautete ein Dekret von damals.

Nie wieder ist jetzt.

Das Ghetto di Venezia ist eine kleine von Kanälen umschlossene Insel innerhalb der Insel Venedig im Sestiere Cannaregio. Es war vom 16. Jh. bis zu seiner Aufhebung 1796 unter Napoleon ein im wahrsten Sinne des Wortes abgeschlossenes Wohngebiet. Die dort lebende jüdische Bevölkerung wurde wie überall im christlichen Europa hart besteuert, aber in Venedig gewährte man zumindest Schutz vor der Inquisition und eine gewisse Rechtssicherheit.

Zu einem ersten größeren Zustrom von Juden auf venezianisches Territorium kam es im Zuge der Pest Mitte des 14. Jh. Mit dem schwarzen Tod begannen die Progrome. Man gab in Mitteleuropa den Juden die Schuld an der Seuche und behauptete, dass Gott die Christen straft, da sie Juden in ihren Städten akzeptieren.

Die meisten der 286 während des Faschismus noch im Ghetto lebenden Juden (über ihnen lag zunächst die schützende Hand Mussolinis, da er eine jüdische Geliebte aus Venedig hatte… ) wurden ab 1943 von den deutschen Besatzern deportiert und größtenteils ermordet. An die Opfer erinnern sieben Basreliefs auf einer Ziegelmauer, bekannt als Holocaust Denkmal.

Einige Überlebende kehrten in das Ghetto zurück. Heute gibt es wieder eine kleine jüdische Gemeinde von 464 Menschen, von denen aber nur noch ein kleiner Teil im Ghetto wohnt. Es war bevor es immer mehr zu einem touristischen „Geheimtipp“ jenseits San Marco und Rialto wurde, in einem sehr schlechten baulichen Zustand, ganze Häuserzeilen wurden abgebrochen, und nur die arme Bevölkerung war zurückgeblieben.

Wie man auf dem Stadtplan erkennt gibt es fünf, auch Scole genannte, Synagogen, jeweils für eine andere Stammgruppe: Scola Grande Tedesca, Scola Canton, Scola Italiana, Schola Levantina und die Schola Spagnola (in Reihenfolge ihrer Erbauung).

Die Synagogen fallen im Stadtbild kaum auf, da sie wegen des Verbots sie auf venezianischen Grundstücken zu bauen, entweder in der äußeren Gestalt von Wohnhäusern oder auf deren Dächern errichtet wurden.

Die Wohnverhältnisse in den Ghettos waren sehr beengt, daher sind nirgendwo sonst in Venedig die Häuser, höher, schmäler und die Stockwerke niedriger, so dass man in den Räumen teilweise kaum stehen konnte.

Hinter der gelben Fassade verbirgt sich die die Scola Italiana von 1571, die ärmste unter den Synagogen.

Apropos gelb – bereits ab 1397 mussten die Juden ihre Kleidung mit einem gelben Stück Stoff kennzeichnen. Die Entstehung des gelben Davidsterns. Ab 1496 sollten sie gar eine gelbe Kopfbedeckung tragen, was für Frauen eine zusätzliche Demütigung darstellte: Gelbe Schals waren die „Berufsbekleidung“ der Prostituierten im Venedig der damaligen Zeit.

Nur in Zeiten von Gefahr durften die Juden die diskriminierende Kleidung ablegen und bewaffnete Leibwächter zum Schutz engagieren. Dabei ging es weniger um den Schutz der Juden, als um das von Christen benötigte Kapital, das mit „Wucherzinsen“ durch ihre Hände ging, wie uns der Ghetto Guide am gelben Tuch was vor der Bima (Kanzel) hängt, erklärte.

In der im Spätrenaissance/Frühbarock Stil errichteten Scola Italiana sind die Marmorsäulen Attrappen aus bemalten Holz. Kein Wunder es war die ärmste Synagoge.

Never again for anyone! Ceasefire – steht mahnend ganz oben an einem direkt an die Erinnerungstafeln angrenzenden Altana auf hinabhängendem Bettlaken.

Weitaus alltäglicher hängt die Wäsche auf den Leinen, die auf typisch italienische Weise zwischen den Häusern gespannt sind, hinab.

Typisch jüdisch sind die koschere Fleischerei, Restaurants, eine Bäckerei für Matzen und ein Lädchen für Ritualgegenstände – von der Kiddush cup für den Sabbat Wein bis zum Shofar (Blashorn) aus Muranoglas – gibt es alles was Herz und Seele begehren.

Weitaus prächtiger als in der italienischen Synagoge sieht es in der spanischen aus, die wir zum Abschluss unseres Rundgangs besuchten. Die im spätbarocken Stil erbaute Scola ist Dank des spanischen (Bestechungs)Goldes auch die größte und umging die Auflage dass Synagogen nur kleiner als die kleinste Kirche erbaut werden durften.

Selbstverständlich sind die vergoldeten Stuckaturen und der vielfarbige Marmor hier echt… Der Innenraum mit seiner ovalen Frauenempore und der hölzernen Balustrade ist eine großartige barocke Rauminszenierung.

Im gleichen Gebäude befindet sich auch das Midrash genannte Studierzimmer. Dort können idealerweise Unwissenheit und stereotype Zuschreibungen überwunden werden.

Das Studium besteht aus ständigem Fragen und Hinterfragen – das die Aussicht auf Erlösung die Lösung aller Probleme verspricht – ist daher eine Haltung, die dem Studium der religiösen Schriften im Judentum diametral entgegengesetzt ist.

Die Thora ist kein Buch, sondern eine Gesetzesrolle. Jede Synagoge besitzt mehrere solcher Schriftrollen, in einem abgelegenen Zimmer der Spanischen konnte ich einige davon zusammengerollt auf einem Tisch liegen sehen.

2021 zeigte das Jüdische Museum Berlin Redemption Now – eine Werkschau der Künstlerin Yael Bartana. Die Ankunft einer weißgewandten androgynen Heils­gestalt, Malka Germania (hebräisch „Königin Germania“) die sie für die Ausstellung konzipierte und in Berlin an geschichts­trächtigen Orten filmte rief Szenen aus einem imaginierten gemeinsamen Un­bewussten hervor:

Vergangen­heit und Zukunft fallen in einer alter­nativen Gegen­wart kollektiver Erlösung zusammen.

Frieden sei in mir, in uns, in unserem Geiste.

Ich wünsche mir das jüdische Kinder wie auf dem bunten Bild was ich in der Synagoge photographierte, wieder sicher und unbeschwert in die Schule gehen können – mit oder ohne Kippa.

Der erste Ort den ich seit Kriegsbeginn betrete, der sich öffentlich zu Israel bekennt ist das Cultural Hideaway: Schloss Elmau. Zweifacher Gastgeber des G7 Gipfels.

In seiner Schönheit und abgeschiedenen Weite das absolute Gegenteil zu einem Ghetto.

Seit heute tagt dort das Munich Strategy Retreat. Einmal im Jahr versammelt die Münchner Sicherheitskonferenz einen ausgewählten Kreis von ExpertInnen, um „off the record“ Empfehlungen zu den aktuellsten außen- und sicherheitspolitischen Herausforderungen zu entwickeln.

שָׁלוֹם Shalom! سلام Salam!

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