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45°43′ nördliche Breite, 12°32′ östliche Länge

An Christi Himmelfahrt (ital. Ascensio Domini), ein heute fast vergessen scheinender Feiertag der bis ins 18.Jh mit großer Pracht und Festlichkeit begangen wurde, war ich im Palazzo Ducale. Dort gibt es im Sala dello Scrutinio, der Saal, in dem zu Zeiten der alten Seerepublik die Stimmzettel ausgezählt wurden, eine großartige – wie formatige Ausstellung von Anselm Kiefer zu bestaunen. Bereits im unmittelbar daneben gelegenen Sala del Maggior Consiglio, einem der größten Säle Europas, roch es verheißungsvoll nach frischer Ölfarbe. Der deutsche Maler zeigt auf 800 Quadratmetern acht aus je 15 bis 20 Leinwänden zusammengesetzte und übergreifend miteinander verbundene Szenen: EPISCH.

Mit dieser vom Boden bis unter die goldene Kassettendecke reichenden Bildfülle übertrumpft er sogar die hinter ihm in der Sala hängenden alten venezianischen Meister. Er ließ die komplette „Istoria“ -der narrativen Gemälde von Tintoretto & Co sowie die Sockelzone – verhüllen. Überwältigung pur; Kiefers heroischer Duktus, seine erdige Farbigkeit mit goldenen, silbrig-grauen, bleiernen Elementen bilden mit den historischen Deckengemälden ein faszinierendes poststrukturalistisches Palimpsest.

Ein zentrales figuratives Element von Kiefer´s „Weiterführung der Historienmalerei“ mit Zitaten der Serenissima ist die filigrane gotische Fassade des Dogenpalastes mit einer über ihr wehenden überdimensionalen venezianischen Flagge, monumental und figurativ („Ohne einen Gegenstand würde ich sowieso kein Bild machen“).

„Kiefer intendiert damit aber keine Legendenbildung wie zuvor die „Istoria“, sondern eine Demontage: Er lässt den Dogenpalast, der über Jahrhunderte das Zentrum der Macht war, in Rauch und Flammen aufgehen“.

Die Abwesenheit menschlichen Daseins wird auch an der Stirnwand deutlich, wo aus einer feuchten lagunenhaften Landschaft eine sehr, sehr lange Leiter in die lichterfüllte obere Bildhälfte führt.

Ein deutlicher Rekurs auf die alttestamentarische Himmelsleiter, ein Auf- und Abstieg zwischen Erde und Himmel den Jakob während seiner Flucht in einer Traumvision erblickte. „Sie stand auf der Erde und ihre Spitze reichte in den Himmel“ (מֻצָב אַרְצָה וְרֹאשׁוֹ מַגּיִעַ הַשָּׁמָיִמָה Genesis 28,1 ). Auf ihr sieht er Engel Gottes, die auf- und niedersteigen, oben aber steht der Herr!

Aus der lagunenhaften Landschaft führt eine überdimensionale Leiter in die lichterfüllte obere Bildhälfte – so high

so low – oben und unten, Himmel und Erde. Doch oben steht kein Herr, nur (s)ein Gewand hängt lose herab, unzählige Schuhe, alles schwere, materielle fällt hinab. Ich spüre einen levitativen Sog.

Mit einem ersten Schritt beginnt alles – auch der Aufstieg zum Himmel. And she’s buying a stairway to heaven

Jedes Detail dieses Opus magnum ist ein faszinierendes Bild für sich…

Kiefer´s Arbeiten sind haptisch, geprägt vom archaisierenden Material, neben dem dominanten Blei sind es Asche, Stroh, Sonnenblumen, Haarsträhnen, Sand, Tonerde, angebranntes Holz, Stofffetzen.

Ausser der Vorliebe für solche unkonventionellen Materialien gibt es noch eine weitere Nähe zum Beuysschen Denken – die Parallelen zwischen den Rollen des Alchemisten und Künstlers, der Rohmaterial und Leinwand zu symbolischen Bedeutungsträgern transformiert.

Neben all diesen Querbezügen zieht sich auch ein literarisches Leitmotiv durch die Sala. Kiefer hat Goethes Faust II intensiv studiert und sieht viele Parallelen zwischen dem Protagonisten und den Venezianern: auch Faust hat kurz vor seinem Tod dem Meer ein Stück Land abgerungen und dann sein Glück in der Ferne gesucht, gewütet und gemordet. Doch er geht auch immer wieder über die 1600 jährige Geschichte Venedigs hinaus und zielt auf die Allzumenschliche Tragik zwischen Expansion, Zerstörung und Verfall. Births and Rebirths.

Was Kiefer sonst noch mit seiner sich selbst übertreffenden Installation, die noch bis Ende Oktober in Venedig zu besichtigen ist, assoziiert, formuliert er etwas kryptisch im Ausstellungstitel: „Questi scritti, quando veranno bruciati, daranno finalmente un po’ di luce“ („Diese Schriften werden, wenn sie verbrannt werden, endlich etwas Licht spenden“).

Ein Zitat des italienischen Philosophen Andrea Emo (1901–1983), das Kiefer auf die düstere kapellenartige Installation im Vorraum geschrieben hat. Aus dem dreiflügeligen Gemälde ragen verkohlte Bücher aus einem einem weiten winterlichen Stoppelfeld in die dritte Dimension hinaus.

Mit der Erinnerung an Glanz und Macht der Serenissima und der Anspielung auf den tragischen Faust, schuf Kiefer ein monumentales Welttheater, referenzierend auf tausendjährige Mythen, Texte und Bücher, als Metapher für kulturelle Übergänge und Passagen zwischen Orient und Okzident.

It sometimes happens that there is a convergence between past and present moments, and as they come together one experiences something of that stillness in the hollow of a wave about to break. Originating in the past but pertaining at bottom to something more than the past, such moments belong as much to the present as to the past, and what they generate is of the utmost importance.” A. Kiefer

Sein Schaffen ereignet sich immer „im Wechselspiel von Mythologie und Ratio“. Er ist ein Künstler der Unterwelt.

Wie Reste eines Scheiterhaufens liegen Teile der «The Concert» genannten Ausstellung des Schweizer Pavillons auf der Erde. Das Projekt soll das Eintauchen in eine Welt voller Widersprüche ermöglichen: Ein Tanz von Licht und Schatten, Entstehung und Auslöschung, Anfang und Ende.

Auch wenn die Zeit der alten weißen Männer in dieser 59. Kunst Biennale endgültig vorbei zu sein scheint – es gibt die Werke der letzten Exemplare ihrer Art (zum Glück) noch in den, wie ein Ring um die Großschau in den Giardini und im Arsenale gelegenen, Collaterales zu besichtigen. Um eine weitere grandiose Rahmenausstellung eines alten weißen Malers geht es in einem meiner nächsten Beiträge: Hermann Nitsch auf Guidecca.

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