Seite wählen

46°41′ nördliche Breite, 9°76′ östliche Länge

„Sils ist, was andächtige Leute einen Kraftort nennen. Und die einzigartige Kultur des Waldhauses erlaubt immer noch einen Ausstieg aus der flachen Welt der Globalisierung in eine vergangene Sphäre europäischen Geistes.“ Adolf Muschg  

Ich komme den Silser See entlang, das Tal öffnet sich und am Berg hinten wie ein weißer Ozeandampfer am schroffen Fels gestrandet, zwischen Arven, Lärchen und silbernen Seen über dem 800 Seelen Dorf Sils-Maria erhaben thronend: Das Waldhaus. Swiss Historic Hotel und seit seiner Eröffnung fünf Generationen im Familienbesitz: A Family affair since 1908. Friedrich Nietzsche, Stammgast in Sils-Maria, nannte das Tal die »Wiege aller Silbertöne«.

Meine Familie besucht das Hotel auch schon in fünfter Generation, jedoch mit jahrzehntelangen Unterbrechungen, so das es beim Eintreten in die Hotellobby nicht zu überschwänglichen Begrüßungen kommt. Als erster weilte der Urgroßvater meines Mannes während der Winterolympiade 1928 in St. Moritz dort mit seiner Tochter – zwei Generationen auf einen Streich.

Gute 50 Jahre später dann der Vater und seit einigen Jahren wir als vierte-, mit meiner Tochter als die fünfte Generation. Ein Familien(t)raum.

Geht es bitte etwas freundlicher? So halbwegs gelungen Abends im Fumoir.

Das Waldhaus befindet sich weitgehend im Originalzustand und versprüht auch heute noch als Festung der Muße einen Belle Époque Charme mit schlicht-nüchternem Schweizer Understatement.  

Seit 1908 spielt, wie einst in jedem guten Hotel, zum Afternoon Tea das Waldhaustrio in der Grand Hall Salonmusik. Jeden Nachmittag zelebrieren sie das Spiel vom guten alten Europa: ein Evergreen. We love it und spielen wie alle Gäste mit – lehnen lesend in Samtsesseln, „auf den Teetischen glänzen silberne Kännchen, unter der hohen Stuckdecke hängen vergoldete Kristallkronleuchter. Ein Kellner fliegt durch den Saal, hoch zugeknöpft, mit langen Schritten und erhobenem Kinn. Er balanciert ein Tablett zu einem der Tische, an einem anderen schenkt er Wasser nach, eine Hand hinterm Rücken. So muss es auf der Titanic gewesen sein. Nur dass das Waldhaus nicht auf einen Eisberg zusteuert, sondern sich langsam, Stück für Stück, in den Berg bricht“.

Ein Blick in die Küchenkathedrale wo gerade die Mise en Place für das heutige Gourmetdîner mit Stefan Stiller – Drei Sterne Koch aus Shanghai – bereitet wird. Wie er bei seiner Küche konsequent auf europäische Spitzenküche mit asiatischen Einflüssen setzt könnte vielleicht eine Inspiration für den zu einem Museum degenerierenden alten Kontinent aussehen. Das beste aus beiden Welten verbinden und ein EURASIA voller Zukunft schaffen?!

Die Hotelbrigade mit eigenem Outfit für jede Position – nicht nur hinter dem Herd.

Alles ist wie immer, beziehungsweise damals, als Richard Strauss hier Champagner genoß und Hermann Hesse ganze Winter Briefe schreibend im Lesezimmer verbrachte. Eine Mischung aus Grandeur und Gemütlichkeit. „Das Weltende könnte stattfinden, und man würde davon im Waldhaus erst eine Woche später erfahren, durch eine unaufgeregte Information des Portiers.“ Martin Mosebach.

Das Waldhaus lebt in seiner eigenen Zeit; jeden Morgen wird vor dem Direktionsbüro die «Magneta», Mutteruhr der Hotel-Uhrenanlage von 1908 aufgezogen.

Ein Zauberberg. Er hat Kultur und ist Kultur. Lesen und ruhen (womit ich mich hier hauptsächlich beschäftige), komponieren und spielen. Dichter und Denker waren hier, und noch heute kommen die europäischen Geistesgrößen gerne hier her, an einem Ort, den Hermann Hesse als das «vorgeträumte Paradies» bezeichnete. Theodor W. Adorno, Gerhard Richter und Donna Leon haben das Hotel „zu einem der schönsten Plätze der Welt“ erkoren. Ich bin völlig d’accord und schreibe deswegen auch zum wiederholten Male über diesen topophilen Ort im Haute Engadine.

Einige Stockwerke über der Welt – erhöht und doch mitten in der Talsohle, ist das Waldhaus kein Bau, der mit den eleganten Hotelfassaden in St. Moritz wetteifert. Kein dekadenter Palast der Eitelkeiten wie in Polanski´s gleichnamigem Film über das legendäre Palace unlängst gesehen, sondern eine (Hoch)Burg der Bildung. Poesie statt Prunk. Mit seinem zinnenbekrönten Nordostturm ist es mehr Burg als Palasthotel und eines der Vorbilder für Wes Andersons „Grand Budapest Hotel“.

Ein Bastion gegen Lärm (als mein Handy in der Grand Hall klingelte wurde ich höflich, aber bestimmt gebeten sofort diese zu verlassen…) und Schnelllebiges. Ein Ort für innere Reisen, Kontemplation und nostalgische Erinnerungen, ein poetischer Raum mitten im Skigebiet.

Nicht Pomp findet der Gast, sondern die zurückhaltende Eleganz und Schönheit des alten Kontinents, in dem das Parkett knarrt und einige Möbelstücke schon ihre besten Zeiten hier sich haben. Über dem Waldhaus liegt kein glamouröser Glanz, sondern das warm glimmende Funkeln des Feuers bevor es zu Asche wird. Doch noch nicht jetzt…

Zu Asche, zu Staub
Dem Licht geraubt
Doch noch nicht jetzt
Wunder warten bis zuletzt

Ozean der Zeit
Ewiges Gesetz
Zu Asche, zu Staub
Zu Asche
Doch noch nicht jetzt

Wie ein Nachhall aus EUROPAS längst vergangener Zeit tönten hier kürzlich Weisen von Novecento, legendärer und berühmtester Ozeanpianist, der Zeit seines Lebens sein Schiff nie verlassen und nie einen Fuss an Land setzte.

Die Welt kam zu ihm aufs Schiff, genau wie auch hier im Waldhaus.

Nach köstlichem Weingenuss fühle ich in der Nacht den Ozeanriesen etwas wanken. (Es gibt hier übrigens noch ein Exemplar der Weinkarte von 1908, mit Preisen von denen man heute nur noch träumen kann… das schöne Leben wird immer unerschwinglicher.)

Dennoch verspüre ich am nächsten Morgen keine Lust von „Bord“ (m)einer mundus conclusus zu gehen.

Richtig an Bord geht es für mich Mitte Februar, nicht wie oben beworben nach Amerika, sondern zum 5. Kontinent. Aber auch mit Hapag – einer Reederei die schon 1908 im St. Moritzer Reisebüro Seereisen anbot. Mein Schiff heisst: EUROPA. Ein schwimmendes Grandhotel Europa. Meer von gestern.

Hat dir dieser Beitrag gefallen?

Dann teile ihn in den sozialen Netzwerken!