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36°15′ nördliche Breite, 136 54′ östliche Länge

Heute geht es von Wasser zu Erde, bzw. in die Berge. Genauer in eines der drei historischen Dörfer in den japanischen Alpen: Shirakawa-gō (白川郷, wörtlich: Dorf am weißen Fluss).

Vom Aussichtsplateau der Ogimachi-Burg habe ich einen perfekten Panoramablick über das abgelegene Dorf im Frühlingsgrün.

Die dicht aneinander stehenden Bauernhäuser sind nach uralten Traditionen im Gasshō-Stil gebaut. Die weit herabgezogenen Dächer sind steil und strohgedeckt und zeugen vom einstigen Lebensstil der Menschen inmitten dieser grandiosen Natur. Auch im kältesten Winter wurde hier Seidenraupenzucht betrieben.

Der Gasshōzukuri Architekturstil – übersetzt „Stil der zum Gebet gefalteten Hände“ – wird charakterisiert durch strohgedeckte, bis zu 60° steile Dächer, die eben solchen zum Gebet gefalteten Händen ähneln. Es ist die japanische Übersetzung von añjali mudrā, die Geste aus der indischen Begrüßung Namaste.

Die robuste Bauweise in Kombination mit den Eigenschaften der Strohabdeckung erlaubt es den Häusern, den schweren Schneefällen (bis zu 4 m) der Region standzuhalten indem sie den Schnee herabgleiten lassen.

Besonders charakteristisch an den mehrstöckigen Häusern der betenden Hände ist die Existenz einer dritten und vierten Etage. Die Wärme der Feuerstellen aus dem ersten Stock zog in die Dachgeschosse und wurde dort zur Aufzucht der Seidenraupen genutzt. Aus deren Fäden gewonnene Seide wurde noch bis in die 1970er in den Webstühlen zu begehrtem Stoffbahnen gesponnen die besonders bei der Herstellung von Kimonos Verwendung fanden. Die Seidenraupenzucht war in harten Wintern für viele Familien oftmals die einzige Einkommensquelle.

Hyperlocal und extrem spezialisiert – Bauweisen, die weise bau(t)en.

Und das oft gemeinsam wie beim Erhalt der großen Strohdächer woran das ganze Dorf mitwirkt. Rural Modernity?

Unter dem schattenspendenden Dach des unten abgebildeten Gasthauses habe ich mich geschützt und geborgen gefühlt und vor einem niedrigen Tisch auf Tatamimatten kreuzbeinig sitzend gestärkt.

Ich bestellte kalte Udon-Nudeln mit Seealgen, Zaru Udon – eine sommerliche Variante, die schon viele Generationen vor mir hier genossen. Einfach köstlich!

Für warme Nudeln und Co wird im Dorf auch heute noch das Wasser auf einem Irori gekocht, eine quadratische von Tatamis ausgesparte in den Fußboden gelassene Versenkung, die mit Holz befeuert wird.

Die Blätter der zur Seidenraupenzucht benötigten Maulbeerensträucher wurden übrigens auch in den Dachgeschossen gelagert um daraus das faserige durchscheinende Japanpapier herzustellen, aus dem u.a. Shōji Schiebewände sind.

Ich erinnere mich an den 1996 erschienenen Roman Seide. Dessen Protagonist, ein Importeur von Seidenraupen, der sich bei seinen jährlichen Reisen nach Japan in eine junge Japanerin verliebt, ohne dass die Liebe über das Begehren und die Sehnsucht hinaus Erfüllung findet. Der minimalistische, durch Auslassungen bestimmte Stil des Romans wurde oft mit der Leichtigkeit und Transparenz von Seide verglichen. Bei seiner letzten Ankunft in einem abgeschiedeneren japanischen Bergtal erblickt Joncour „vor sich das Nichts. Mit einem Mal sah er, was er für unsichtbar gehalten hatte. Das Ende der Welt.“

Shirakawago ist zu allen Jahreszeiten märchenhaft schön, doch im Winter wenn die schweren Schneemassen die Dächer der wie mit Zuckerguss überzogenen (Lebkuchen)Häuser bedecken erscheint es noch magischer und mehr am Ende der Welt.

Erst in den 1950er Jahren erfolgte der vollständige Anschluss der schwer zugänglichen bergigen Landschaft, durch die es im Winter aufgrund meterhoher Schneefälle kein Durchkommen gab, an die Außenwelt.

Im 19. Jh gab es noch 94 Gasshō-Häuser unter den etwa 1800 Häusern der drei Dörfer. Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung Japans zwischen 1950 und 1975 zogen viele Dorfbewohner in die Städte und weitere Häuser wurden abgerissen um Platz für Neubauten zu schaffen. Glücklicherweise einigten sich daraufhin 1971 die Hausbesitzer von Shirakawa-gō auf drei Prinzipien: “Nicht verkaufen”, “Nicht vermieten” und “Nicht zerstören” was 1996 zur Anerkennung als Weltkulturerbe führte. Heute sind die historischen Holzbauten, einige davon über 250 Jahre alt, eine der größten Attraktionen der Region, trotz (oder wegen?) ihrer abgeschiedenen Lage.

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