45° 26′ nördliche Breite, 12° 19′ östliche Länge
Siamo con voi nella notte…deutsch: „Wir sind bei euch in der Nacht“.
Der Satz leuchtet in blauen Neonlettern auf einer dem zentralen Innenhof zugewandten Fassade des Frauengefängnis in Guidecca.
Nein, keine Sorge – ich bin nicht im Knast, also nicht als Inhaftierte, nur als Besucherin der Biennale. Mit dieser Kunstschau in einer Haftanstalt will der Vatikan die Grenze zwischen Innen und Außen etwas auflösen. 10 der 80 Insassinnen bereiteten sich ein halbes Jahr vor, der Außenwelt Tür und Tor zu öffnen und Einblicke in ihren Alltag zu geben: con mie occhi – with my eyes.
Eine Botschaft im Sinne von Franziskus, der als erster Papst überhaupt die Biennale besuchte. Mit der Wahl dieses ungewöhnlichen Ortes in der italienischen Lagunenstadt, will er eine Kultur der Begegnung fördern und auf die Ausgegrenzten hinweisen – eines seiner zentralen Anliegen.
Der Bau liegt malerisch an einem von Venedigs unzähligen Kanälen. An seiner Hauptfassade prangt unübersehbar eine große Wandmalerei in Schwarz-Weiß. Sie stammt von Maurizio Cattelan, der in der Vergangenheit bereits durch provokante Werke zum Thema Religion auffiel.
Wandmalerei „Father„, Maurizio Cattelan
Ich sehe schmutzige Füße, vielleicht eine moderne Interpretation der Grablegung Christi und auch eine Hommage an die Geste Jesu, der die Füße der Jünger wusch, wie es in jener Zeit die Sklaven für ihre Herren taten. Damit habe Jesus zeigen wollen, was „Dienen am Nächsten“ bedeute, so der Papst.
Sein Hubschrauber landete an einem frühen Maimorgen im Innenhof der Haftanstalt. Die Frauen zeigen uns stolz wo genau der Landeplatz war. Bei seinem Besuch sprach er über Frauen und zeitgenössische Kunst.
„Niemand hat ein Monopol auf den menschlichen Schmerz. Aber es gibt eine Freude und ein Leid, die sich im Weiblichen in einzigartiger Form vereinen und denen wir zuhören müssen, weil sie uns etwas Wichtiges zu lehren haben“, Er hoffe, die zeitgenössische Kunst werde „unseren Blick öffnen“ und helfen, „Frauen als Mitgestalterinnen des menschlichen Abenteuers zu würdigen“. Eine Last Minute Erkenntnis!
Die real existierende Parallelwelt besichtigen meist Gruppen von rund 30 Besuchern, die sich, genau wie ich, bereits Wochen vorher registrieren mußten. Aus meiner Gruppe wurden nur acht Personen hineingelassen, da die anderen entweder Ihren Ausweis nur digital oder ihren Namen unvollständig eingetragen hatten. Harte Tür: No chance. Wir aber treten ein in das leicht abgebröckelte Backsteingemäuer.
Eskortiert von zwei streng dreinblickenden Wächterinnen in blauen Uniformen. Eine geht voran mit einem Bund riesiger Messingschlüssel und schliesst uns auf und ein. Plötzlich tauchen zwei Frauen in selbstgenähten schwarz-weißen Baumwollmänteln auf und beginnen zu erzählen über die Kunst, die an den unterschiedlichsten Orten des Gefängnisses hängt, so auch in der Cafeteria, dem Startpunkt der Führung, die leider nur in Italienisch stattfindet. Aber Knastis sind nicht immer mehrsprachig…
Fast interessanter als die Kunst empfinde ich das geradezu voyeuristische Eindringen in die Privatsphäre der Straftäterinnen und die Auflösung der Grenzen zwischen Beobachter und Beobachtetem, Richter und Beurteiltem. Eine ist recht selbstbewusst, mittelalt, halbwegs gepflegt, eloquent, die andere jünger, übergewichtiger, weniger wortgewandt. Beide haben einen breiten ungefärbten Haaransatz und einen etwas abwesenden, traurigen Blick. „My eyes have seen you.“ Buch Hiob, Vers 42.5
Der Rundgang dauert eine gute Stunde. Acht KünstlerInnen haben ihn unter Leitung der Kuratoren Chiara Parisi und Bruno Racine gemeinsam mit den Insassinnen vorbereitet. Es ist kein Ausstellungsbesuch wie jeder andere: Beim Sicherheitscheck am Eingang mußten wir Taschen inklusive Handy abgeben, was mich anfangs etwas nervte, da ich über den Ort bloggen möchte, aber keine Photos von innen machen kann. Aber wie sagte eine der Kuratoren: „Wann tun wir das überhaupt noch, uns etwas einfach so anzusehen, ohne Handys in der Hand, nur mit unseren Augen und unseren Herzen?“
Das ehemalige Benediktinerinnen-Kloster aus dem 12. Jh. wurde erst Mitte des 19. Jh. in ein Gefängnis umgewandelt. Doch ein gewisser „heiliger“ Spirit war noch bis in die 1950er, wo Häftlinge sich weißbekleidet im Kreistanz übten, zu spüren und existiert vielleicht auch heute noch.
Die KünstlerInnen haben es vorab besucht, um geeignete Räume für ihre Werke auszuwählen oder im Dialog mit den Insassinnen ihre Kunst erst zu entwickeln. So auch Simone Fattal. Sie hatte die Frauen gebeten, sich in Gedichten auszudrücken, und die meist düsteren Worte dann auf Platten aus Lavagestein abgebildet, die nun auf den Steinmauern des langen Ganges außerhalb des Gebäudes hängen.
Auszug aus einem der Gedichte: „Ich zittere wie ein Blatt, das kurz davor ist, vom Ast abzubrechen. (…) Alles, was du bist, ist genau das, was ich an meiner Seite haben will. Wenn du wegläufst, kann ich dir nicht hinterherlaufen. Aber wenn du bleibst, kann ich dich für immer bei mir behalten.“
Hinter einer Mauer mit Stacheldraht befindet sich ein großer, üppig bepflanzter Garten. Hier arbeiten ausgewählte Insassinnen morgens und nachmittags jeweils zwei Stunden. Sie bauen Blumen und Nutzpflanzen an, die einmal in der Woche an einem Stand verkauft werden. Die Frauen nähen auch Kleidung und waschen „für halb Venedig“ die Wäsche.
Das Thema dieser Biennale lautet „Fremde überall“ und weist auf einen universellen Zustand hin, den jeder erleben kann, insbesondere im Gefängnis, einem Ort, an dem man als Fremder eintritt und auch von außen als fremd wahrgenommen wird. „Hier fühlen sich die weiblichen Insassen wie Gäste, sie erleben es als einen Ort des Übergangs, bevor sie in ihre Häuser und Familien zurückkehren“, so die Aussage des Kaplans. „Aber es gibt auch diejenigen, die eine lange Strafe verbüßen müssen, vielleicht Jahre um Jahre, so dass dieser Ort auch als ein wenig ihr eigener wahrgenommen werden muss, ein Ort, an dem sie sich verbessern und erholen können.“
Insbesondere im letzten Raum meiner Tour: der hohen marmornen Gefängniskapelle, von deren Decke lange bunte Stoffschnüre hängen.
Ich denke an Michel Foucault, der sich mit solchen besonderen Orten, Heterotopien, beschäftigte. „Orte außerhalb aller Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können.“ Als Beispiele nennt er Gefängnisse, Gärten oder auch Klöster. Die Casa Reclusione Femminile Venezia verbindet alle drei zu einer Art Hyper-Heterotopie. AndersOrte sind wie Fremdkörper, zugleich reflektieren sie in besonderer Weise gesellschaftliche Verhältnisse und Machtarchitekturen. https://topophilia.world/port-arthur-hell-on-earth/
Die Installation der französischen Konzeptkünstlerin Claire Fontaine leuchtet im Dunkeln und ist von Graffiti aus den 1970ern inspiriert, die, an Wänden in verschiedenen italienischen Städten geschrieben, Solidarität mit politischen Gefangenen ausdrückten.
Alfred de Musset dichtete 1834 in einem kleinen Vers auf die Guidecca: „Aber wirst du dich erinnern / an den Schmerz eines Tages / und zurückkehren?“
Beeindruckend!
Großes Kompliment!!