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54° 34′ nördliche Breite, 13° 39′ östliche Länge

Bevor ich Monate verspätet meine Australien Blog Reihe mit dem heiligen Berg Uluru beende, nehme ich euch zwischendurch mit auf einen etwas aktuelleren Ausflug in felsiges Gebiet. Auf die Halbinsel Jasmund, zum Königstuhl, dem bekanntesten Kreidefelsvorsprung von Rügen. Auch Unesco Weltnaturrerbe.

Der neue sehr weit frei auskragende Skywalk schwebt über dem Königstuhl und bietet ein faszinierendes Panorama auf den größten und legendärsten Kreidefelsen, in den Kliffhang und über die azurblaue spiegelglatte Ostsee. Der ehemalige Ausguck an der Vorderkante der markanten Felsformation ist leider nicht mehr zu betreten. Nur die verwitterten „Lebensgefahr“ Hinweise, die Besucher warnten nicht zu dicht heran zu treten, erinnern noch an `unsicherere Zeiten.

Die jüngsten Ausstellungen anlässlich des 250. Geburtstags von Caspar David Friedrich (1774-1840), von denen ich bereits die in Hamburg (https://topophilia.world/moenchin-am-meer-rauhnaechte-im-norden/) und Berlin sah, lenken mit einem Hauptwerk der deutschen Romantik, dem berühmten Kreidefels-Gemälde von 1818, wo er die wilde Schönheit der Küste in einem inszenierten Panorama verewigte, zusätzlich Aufmerksamkeit nach Rügen.

Das Gemälde zeigt die Steilküste am Meer mit bizarren grell-weißen Felsen. Zwei Buchen berühren sich am oberen Bildrand. Auf dem schmalen grasbewachsenen Vordergrund befinden sich drei biedermeierlich gekleidete Personen, eine Frau und zwei Männer. Sie bieten, von l. nach r., drei unterschiedliche Perspektiven der Naturwahrnehmung: emotional bewegt, wissenschaftlich rational untersuchend, philosophisch aufs Meer hinausschauend. Die wenigen Wellen im ruhigen Meer spiegeln die Mittagssonne, zwei weiße Segelboote sind unterwegs – wie am heutigen Sommertag.

Ein Fenster aufs Meer, von Felsen und Bäumen traditionell gerahmt, durch das die drei Menschen die „Außenwelt“ wahrnehmen.

Hiroyuki Masuyama, nach Caspar David Friedrich, Kreidefelsen auf Rügen 1818 / 2017 LED Lightbox / 90,5 x71x4cm

Vom japanischen Künstler Hiroyuki Masuyama gibt es eine hinterleuchtete digitale Fotocollage des berühmten Gemäldes. Er rekonstruiert kein verlorenes Idyll, sondern zeigt, wie sensibel und gefährdet dieses ist. Eine Gleichzeitigkeit von romantischer Hinwendung und Dekonstruktion zu (s)einem Objekt der Sehnsucht. Als Zeitenwanderer folgt er Caspar David Friedrichs Wanderrouten durch die Landschaft des Nordens. Er fotografierte Friedrichs Motive zur selben Jahreszeit und bei ähnlichem Wetter, wie er sie im 19. Jh. festhielt.

Analog dazu, wie der große Romantiker im Atelier seine Ideallandschaften komponierte und aus Skizzen verschiedener Felsen zusammenstellte, setzt der Künstler Gemälde im Computer neu zusammen. Er benötigt hierbei bis 500 Detailfotografien pro Werk.

Der Kreidefelsen und die benachbarten Formationen fallen fast senkrecht zum Strand ab. Durch die geologische Beschaffenheit sowie dem Wellenschlag am Klifffuß kommt es immer wieder zu Abbrüchen am gesamten Kliff. Der letzte große Küstenabbruch 2005 riss 50.000 m³ Kreide ins Meer. Oben abgebildet sind die Wissower Klinken Kreidefelsen 2004 vor dem Küstenabbruch. Diese existierten übrigens zum Zeitpunkt der Entstehung des CDF Gemäldes noch nicht, auch wenn sie oft als motivische Inspiration genannt werden, sondern entstanden erst später erosionsbedingt. In Friedrichs Bild sind die Felsen zerklüfteter und steiler als die von Wind und Wetter geschliffenen…Künstlerische Freiheit auf der Suche nach noch mehr Erhabenheit.

Die tatsächliche Position des Malers konnte durch einen Stahlstich Johann Friedrich Rosmäßlers von 1835 bestimmt werden.

Johann Friedrich Rosmäßler: Kleine Stubbenkammer, Stahlstich, 1835

Die Wissower Klinken wie ich sie im Sommer 2024 sah – zwei kleine Felsstümpfe.

Beim Blick hinab kann man hier jedoch noch direkt am Rand stehen und den Schauder des Sogs in die Tiefe spüren: Cliffhanger.

Die kleine, nur ganz knapp über dem Kliff ragende, 1865 gebaute Victoria-Sicht, bietet einen grandiosen Ausblick auf die Kreideküste unter und den Königsstuhl links von ihr, sowie weitläufige 40 Kilometer in die Ferne bis zum Horizont, wo Meer und Himmel sich vereinen.

Die Victoria-Sicht erhielt ihren Namen von Kaiser Wilhelm, der mit seiner Schwiegertochter Kronprinzessin Victoria von Preußen, die Insel Rügen besuchte.

„Das Meer ist eine große Verschönerung aller Landschaften“ – nach Friedrich Schinkel

Der steinalte Königstuhl hat seinen Ursprung im Kreidemeer.

Wie die gesamte Kreideküste besteht er aus sehr feinem, weißem Kalkgestein, in das schwarze, harte Feuersteine eingebettet sind. Geologen nennen diese Kreideschicht „Rügener Schreibkreide“. Der Kalkstein bildete sich aus Rückständen winziger Lebewesen. Abermilliarden Algen und Einzeller lebten im warmen Kreidemeer, das vor 70 Mio. Jahren das nördliche Europa bedeckte. Sie waren die Nahrungsgrundlage für Muscheln und damit letztlich auch für Fische und Saurier. Als kalkhaltiger Schlamm lagerten sich die Außenskelette der Algen und die Panzer der Einzeller in Millionen von Jahren auf dem Meeresboden ab – aus diesen Sedimenten entstanden, als das Meer sich zurückzog, die Kreidefelsen. Und die Halbinsel Jasmund – ein einziger, riesiger Block Kreide.

Die Formation vom Strand aus gesehen (um 1900)

Die Kreidefelsen waren bereits um 1820 vom frühen Rügen Tourismus erschlossen. Nordisch-ossianische Dichtungen, einige Reiseführer, geologische Abhandlungen und Friedrichs um 1800 entstandene Rügenzeichnungen machten die Ostseeinsel und das erhabene Gefühl, von den Kreidefelsen in die Ferne zu schauen und das Schaudern beim Anblick des Abgrunds, populär. Ein Doppelblick- kick.

„Auf diesem Scheitel [des Königstuhls] fühlt man sich in einem ersten Augenblick von einer stummen Bestürzung ergriffen, eine gewisse Furcht beengt die Brust, und der Blick, unvermögend, das Ganze zu fassen, schweift unstet auf dem erweiterten Gesichtskreis umher, bald von den Prospekten der großen Schlucht und der kleinen Stubbenkammer angezogen, bald furchtsam zur Tiefe des Strandes niedertauchend, bald über des blauen Meeres unendlichen Halbkreis hinfliegend, und umsonst nach einer dämmernden Küste des gegenüberliegenden Schwedens spähend…“ Johann Jacob Grümbke

Last not least – woher kommt der Name Königstuhl? Wie meist gibt es mehrere Überlieferungen – sucht euch eine aus:

1. Das 200 m² große Plateau liegt über einem bronzezeitlichen Königshügelgrab (2200 bis 800 v. Chr.).

2. 1715 leitete der schwedische König Karl XII. von dieser Stelle ein Seegefecht gegen die Dänen, das ermüdete den Herrscher derart, dass er sich einen Stuhl bringen ließ.

3. Allerdings wird schon in einem Reisebericht 1584 der Name „Konigsstuel“ gebraucht, sodass die Namensgebung früher anzusiedeln ist… In einer weiteren Sage steht geschrieben, dass in alter Zeit derjenige zum König gewählt wurde, dem es als Erstem gelang, von der Seeseite aus den Kreidefelsen zu erklimmen und sich auf den oben aufgestellten Stuhl zu setzen. Wow – mittelalterlicher Vertikalsport!

Die Kreideküste war ein Sehnsuchtsort für romantische Schöngeister: Johannes Brahms, Richard Wagner, Wilhelm von Humboldt etc. und ist es immer noch für neoromantische Schöngeister wie mich.

„Man kann auch in die Höhe fallen so wie in die Tiefe“. Friedrich Hölderlin

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